Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
stimmte, Denises schmale Schultern hingen vornüber, als wollte sie Abbitte für etwas leisten. Sie war zweiundzwanzig und hatte gerade ihren Abschluss an der Staatlichen Universität in Vermont gemacht. Ihr Mann hieß auch Henry, und als Henry Kitteridge Henry Thibodeau kennenlernte, empfand er etwas Strahlendes an ihm, das ihn fesselte. Der junge Mann war kräftig, mit grobknochigem Gesicht und einem Leuchten in den Augen, das seine schlichte, anständige Erscheinung aus der Durchschnittlichkeit heraushob. Er war Klempner und arbeitete im Betrieb seines Onkels. Denise und er waren seit einem Jahr verheiratet.
»Sonst noch Wünsche«, sagte Olive, als er vorschlug, sie sollten das junge Paar zum Essen einladen. Henry ließ das Thema fallen. Dies war die Zeit, als sein Sohn, auch wenn man ihm die Pubertät äußerlich noch nicht ansah, in eine plötzliche, aggressive Muffigkeit verfiel, die die Stimmung im ganzen Haus vergiftete; Olive wirkte genauso verändert und unstet wie Christopher, und die beiden fochten schnelle, wilde Kämpfe aus, die ebenso schnell in eine stumme, enge Vertrautheit umschlagen konnten, während Henry, ratlos und verdutzt, dastand und nichts begriff.
Aber als er sich an einem Spätsommerabend, als die Sonne schon hinter den Fichten unterging, auf dem Parkplatz noch mit den Thibodeaus unterhielt, befiel Henry Kitteridge eine solche Sehnsucht nach der Gesellschaft dieser jungen Leute, die ihn mit einem so zurückhaltenden und doch eifrigen Interesse ansahen, während er von seiner eigenen fernen Studienzeit sprach, dass er sagte: »Ach, übrigens, Olive und ich würden euch demnächst gern zu uns zum Essen einladen.«
Er fuhr heim, vorbei an den hohen Kiefern und der aufblitzenden Bucht, und dachte an die Thibodeaus, die in die entgegengesetzte Richtung fuhren, zu ihrem Trailer am Stadtrand. Er stellte sich das Trailerinnere vor, gemütlich und aufgeräumt - denn Denise hatte eine reinliche Art -, stellte sich vor, wie sie einander von ihrem Tag erzählten. Denise sagte vielleicht: »Er ist wirklich ein netter Chef.« Und Henry antwortete: »Also, ich mag ihn richtig gern.«
Er bog in seine Einfahrt ein, die im Grunde nur eine Grasfläche oben am Hang war, und sah Olive im Garten. »Hallo, Olive«, sagte er und ging zu ihr. Er wollte die Arme um sie legen, aber eine Dunkelheit schien neben ihr zu stehen wie ein Bekannter, der das Feld nicht räumen will. Er sagte ihr, dass die Thibodeaus zum Essen kommen würden. »Das gehört sich einfach«, sagte er.
Olive wischte sich den Schweiß von der Oberlippe, wandte sich ab und riss ein Büschel Glatthafer aus. »Dann wär das ja auch geklärt, Mr. President«, sagte sie. »Sag schon mal dem Koch Bescheid.«
Am Freitagabend folgte das Paar ihm nach Hause, und der junge Henry schüttelte Olive die Hand. »Schönes Haus haben Sie hier«, sagte er. »Und dieser tolle Meerblick! Mr. Kitteridge sagt, Sie haben es selber gebaut.«
»Ja, haben wir.«
Christopher saß seitlich auf seinem Stuhl, hingefläzt in pubertärer Wurstigkeit, und antwortete nicht, als Henry Thibodeau ihn fragte, ob er in der Schule irgendwelchen Sport trieb. Henry Kitteridge spürte eine unerwartete Wut in sich aufsteigen und hätte den Jungen am liebsten angebrüllt; in seinen schlechten Manieren schien ihm etwas Hässliches zutage zu treten, das im Hause Kitteridge nichts verloren hatte.
»Wenn man in einer Apotheke arbeitet«, sagte Olive zu Denise, als sie einen Teller mit Baked Beans vor sie hinstellte, »kriegt man die Geheimnisse der ganzen Stadt mit.« Sie setzte sich ihr gegenüber, schob ihr die Ketchupflasche hin. »Da muss man den Mund halten können. Aber das können Sie ja, wie es scheint.«
»Denise macht das alles genau richtig«, sagte Henry Kitteridge.
Denises Mann sagte: »Und ob. Wenn Sie sich auf jemand verlassen können, dann auf Denise.«
»Das glaube ich Ihnen«, sagte Henry und reichte ihm den Korb mit den Brötchen. »Und bitte, sagen Sie doch Henry zu mir. Einer meiner Lieblingsnamen«, fügte er hinzu. Denise lachte leise; sie mochte ihn, das konnte er sehen.
Christopher lümmelte sich noch tiefer in seinen Stuhl. Henry Thibodeaus Eltern hatten eine Farm ein Stück landeinwärts, und so fachsimpelten die beiden Henrys über Getreide
und Stangenbohnen und über den Mais, der dieses Jahr wegen der Dürre nicht so süß war wie sonst, und darüber, wie man ein gutes Spargelbeet anlegt.
»Sag mal, muss das sein«, sagte Olive, als Henry
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