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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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zu kommunizieren.«
    »Verstehe. Die Schuld liegt also einzig und allein bei mir.«
    »Nein. Die Schuld liegt immer bei den anderen. Darum geht’s mir.«
    Es konnte nur Christophers Therapeut sein, der ihm all das einredete. Wer hätte je mit so etwas gerechnet? »Ich nicht, sprach die kleine rote Henne«, sagte sie in den Hörer.

    »Was?«
    Sie legte auf.
    Zwei Wochen vergingen. Sie verlegte ihren Spaziergang am Fluss auf vor sechs Uhr, weil sie Jack nicht begegnen wollte und auch, weil sie immer schon nach wenigen Stunden Schlaf wieder wach war. Der Frühling war so schön, dass es ihr wie ein Affront vorkam. Milchsterne brachen zwischen den Kiefernnadeln hervor, um die Granitbank blühten ganze Kissen von tiefblauen Veilchen. Sie kam an dem älteren Paar vorbei, das wieder Händchen hielt. Danach hörte sie mit den Spaziergängen ganz auf. Ein paar Tage blieb sie im Bett, etwas, was es - ihres Wissens - bei ihr noch nie gegeben hatte. Sie war kein Mensch, der sich verkroch.
    Christopher rief nicht an, Bunny rief nicht an. Jack Kennison rief nicht an.
    Eines Nachts wachte sie um Mitternacht auf. Sie fuhr den Computer hoch und tippte Jacks E-Mail-Adresse ein, die sie noch aus der Zeit hatte, als sie zusammen zu Mittag aßen und nach Portland ins Konzert fuhren.
    »Hasst deine Tochter dich?«, schrieb sie.
    Am Morgen fand sie ein schlichtes »Ja« vor.
    Sie wartete zwei Tage. Dann schrieb sie: »Mein Sohn hasst mich auch.«
    Eine Stunde später kam die Antwort. »Zermürbt es dich? Mich zermürbt es, dass meine Tochter mich hasst. Aber ich weiß, dass es meine Schuld ist.«
    Sie schrieb sofort zurück. »Mich zermürbt es auch. Völlig. Und es muss auch meine Schuld sein, obwohl ich es nicht verstehe. Ich erinnere mich an vieles ganz anders als er. Er ist bei einem Psychiater, der Arthur heißt, und ich glaube, dieser Arthur steckt hinter dem Ganzen.« Sie überlegte lange, klickte auf Senden und schrieb dann sofort: »P. S. Aber es ist sicher auch meine Schuld. Henry hat gesagt, ich hätte mich nie, kein
einziges Mal, für irgendetwas entschuldigt, und vielleicht stimmt das.« Sie ging auf Senden. Dann schrieb sie: »NOCH MAL P. S. Es stimmt.«
    Darauf kam nichts mehr, und sie fühlte sich wie ein Schulmädchen, dessen Schwarm mit einer anderen abzieht. Gut, Jack hatte ja höchstwahrscheinlich auch eine andere. Eine andere alte Frau. Von der Sorte liefen schließlich genügend herum, Republikanerinnen inbegriffen. Sie legte sich auf das Bett im Faulenzerzimmer und drückte sich ihr kleines Radio ans Ohr. Dann stand sie wieder auf und führte den Hund aus, angeleint, weil er sonst Jagd auf die Moody-Katzen machte; eine hatte er schon totgebissen.
    Als sie zurückkam, war die Sonne schon über den Zenit, keine gute Tageszeit für Olive; wenn die Dunkelheit kam, wurde es besser. Wie hatte sie diese langen Frühlingsabende geliebt, früher, als sie jung war und ihr ganzes Leben noch vor ihr lag. Sie suchte im Schrank gerade nach einem Kauknochen für den Hund, da hörte sie den Anrufbeantworter piepsen. Absurd, wie sehr sie hoffte, es könnte Bunny sein oder Chris. Jack Kennisons Stimme sagte: »Olive. Kannst du herkommen?«
    Sie putzte sich die Zähne und ließ den Hund in seinem Hundehaus.
     
    Sein blitzendes rotes Auto stand in der kleinen Einfahrt. Als sie klopfte, hörte sie nichts. Sie drückte die Tür auf. »Hallo?«
    »Hallo, Olive. Ich bin hier hinten. Ich hab mich kurz hingelegt, ich komme sofort.«
    »Nein«, rief sie, »bleib ruhig liegen. Ich finde dich schon.« Sie fand ihn auf dem Bett in dem ebenerdigen Gästezimmer. Er lag auf dem Rücken, eine Hand unter den Kopf geschoben.
    »Ich bin froh, dass du gekommen bist.«
    »Fühlst du dich wieder wacklig?«

    Er lächelte, diese Spur von einem Lächeln. »Nur in der Seele. Der Körper frettet sich durch.«
    Sie nickte.
    Er rückte die Beine zur Seite. »Komm«, sagte er und klopfte auf das Bett. »Setz dich zu mir. Ich bin zwar ein reicher Republikaner, wobei ich so reich auch wieder nicht bin, falls du dir insgeheim Hoffnungen gemacht hast. Wie auch immer …«
    Er seufzte, schüttelte den Kopf, und die Sonne, die zu den Fenstern hereinschien, machte seine Augen noch blauer als sonst.
    »Wie auch immer, Olive, du kannst mir alles sagen, auch, dass du deinen Sohn grün und blau geprügelt hast, ich werd’s dir nicht vorhalten. Glaube ich jedenfalls. Ich habe meine Tochter emotional geprügelt. Ich habe volle zwei Jahre nicht mit ihr geredet, kannst du

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