Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
Was kann ich für Sie tun?« Wie ein kleines Mädchen, das erwachsen spielt.
Und dann, eines Montagmorgens, als es schneidend kalt in der Apotheke war, schloss er den Laden auf und fragte: »Wie war das Wochenende, Denise?« Olive hatte sich tags zuvor geweigert, mit in die Kirche zu kommen, und gegen seine Gewohnheit war Henry heftig geworden. »Ist das zu viel verlangt?«, hatte er sich sagen hören, als er in der Unterhose in der Küche stand und seine Hosen bügelte, »dass die eigene Frau einen in die Kirche begleitet?« Ohne sie zu gehen schien ihm wie ein öffentliches Eingeständnis familiärer Zerrüttung.
»Und ob das zu viel verlangt ist!«, hatte ihm Olive förmlich entgegengespuckt und ihrem Groll freien Lauf gelassen. »Hast du eine Ahnung, wie saumäßig müde ich bin! Den
ganzen Tag unterrichten und in schwachsinnigen Konferenzen sitzen, wo einem dieser Drecksdirektor den letzten Nerv raubt, dann Einkaufen, Kochen, Bügeln, Wäschewaschen, mit Christopher Hausaufgaben machen! Und du …« Sie hielt die Lehne eines Esszimmerstuhls gepackt, und ihr dunkles Haar, noch ungekämmt und von der Nacht ganz verdrückt, fiel ihr in die Augen. » Du , Mr. Oberdiakon Friede-Freude-Eierkuchen-Daherfasler, erwartest von mir, dass ich meinen Sonntagvormittag opfere, um mit einem Haufen Vollidioten herumzuhocken!« Unvermittelt setzte sie sich auf dem Stuhl nieder. »Ich hab’s ganz einfach satt«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Es steht mir bis hier.«
Eine Schwärze zog durch sein Inneres, etwas Erstickendes. Am nächsten Morgen sagte Olive beiläufig: »Jims Auto hat letzte Woche gerochen, als hätte sich jemand darin übergeben. Hoffentlich hat er’s saubergemacht.« Jim O’Casey war ein Kollege von Olive und nahm sowohl sie als auch Christopher seit Jahren mit zur Schule.
»Hoffentlich«, sagte Henry, und auf diese Weise wurde ihr Streit beigelegt.
»Oh, ich hatte ein ganz wunderbares Wochenende«, sagte Denise, und ihre Äuglein hinter den Brillengläsern blickten ihn mit einem so kindlichen Eifer an, dass es ihm schier das Herz brach. »Wir sind zu Henrys Eltern gefahren und haben nachts Kartoffeln geerntet. Henry hat die Scheinwerfer eingeschaltet, und wir haben nach Kartoffeln gegraben. In diesem eiskalten Boden die Kartoffeln zu finden - wie Ostereiersuchen war das!«
Er hörte auf, den Karton mit dem Penicillin auszupacken, und stieg die Stufe hinunter, bevor er antwortete. Außer ihnen beiden war noch niemand im Laden, und unter dem Schaufenster zischte der Heizkörper. »Das hat sicher Spaß gemacht, Denise«, sagte er.
Sie nickte und strich über das Regal mit den Vitaminen gleich neben ihr. Über ihr Gesicht huschte ein Anflug von Furcht. »Mir ist kalt geworden, und ich hab mich ins Auto gesetzt und Henry beim Graben zugeschaut, und ich habe gedacht, es ist zu schön, um wahr zu sein.«
Was gab es in ihrem jungen Leben, das sie so misstrauisch gegen das Glück gemacht hatte? Die Krankheit ihrer Mutter? Laut sagte er: »Kosten Sie’s nur aus, Denise. Sie haben noch viele glückliche Jahre vor sich.« Oder, dachte er, während er sich wieder seinen Kartons zuwandte, oder es hatte mit ihrem Glauben zu tun - dem ständigen schlechten Gewissen der Katholiken.
Das Jahr, das dem folgte - war es das glücklichste in seinem Leben? Er dachte das oft, auch wenn es ihm selber töricht vorkam, eine derartige Einstufung vorzunehmen; aber in seiner Erinnerung war dieses besondere Jahr durchtränkt von einem wohligen Gefühl der Zeitlosigkeit, und wenn er in die Apotheke fuhr, durch frühmorgendliches Winterdunkel und dann später durch die zunehmende Helle eines Frühlings, vor dem sich prall der Sommer auftat, waren es die harmlosen kleinen Freuden seines Arbeitstages, von denen sein Herz so zum Überfließen voll schien. Wenn Henry Thibodeau in den gekiesten Hof einbog, ging Henry Kitteridge oft zur Tür, um sie für Denise aufzuhalten, und dabei rief er: »Morgen, Henry«, und Henry Thibodeau streckte den Kopf zum offenen Fahrerfenster heraus und rief zurück: »Morgen, Henry«, mit einem breiten Grinsen auf seinem anständigen, freundlichen Gesicht. Manchmal war es auch nur ein Salut: »Henry!« Und der andere Henry ebenfalls: »Henry!« Es war ein Spiel, an dem sie beide gleich viel Spaß hatten, und Denise, sachte zwischen ihnen hin und her geworfen wie ein Football, huschte schnell in den Laden.
Ihre Hände, die aus den Fäustlingen zum Vorschein kamen, wirkten so dünn wie die eines
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