Mit dem Wolf in uns leben. Das Beste aus zehn Jahren Wolf Magazin (German Edition)
damaligen Zeit sind verständlich. Es ging um die Existenzgrundlage ganzer Familien, wenn Wölfe wieder einmal in die Weiler, in Stall und Weiden eindrangen. Und sicher haben sie dabei nicht immer nur Haustiere gerissen, sondern auch mal ein Kind in den Wald geschleppt.
Doch nicht einmal in dieser Zeit war das Bild vom Wolf einheitlich schlecht. In unzähligen Fabeln galt Isegrim vielmehr als tölpelhafter Trottel, der immer wieder von dem kleineren, aber so viel schlaueren Reineke überlistet wurde. Erst Jahrhunderte später wurde er zum wirklichen Handlanger des Teufels, zur Inkarnation des Bösen schlechthin. Es war die unruhige Zeit der Reformation und der Gegenreformation, langer Kriege und vielen Elends auf dem Lande, als unzählige Frauen der Hexerei beschuldigt wurden, und auch sehr viele Männer als überführte Werwölfe ihr Leben auf dem Scheiterhaufen lassen mussten. Wie immer hat man es auch damals verstanden, unliebsame Randgruppen für die Probleme der Zeit verantwortlich zu machen. Und zu diesen Randgruppen gehörten, nach mehr als tausendjähriger Verfolgung, inzwischen auch die Wölfe. Mitte letzten Jahrhunderts waren sie dann aus Mitteleuropa praktisch verschwunden.
So spiegelte unsere Einstellung zum Wolf unsere Beziehung zur Natur allgemein wieder, die wiederum im Wesentlichen durch den Entwicklungsstand unserer Natur beherrscht wird. Deshalb mag es nicht verwundern, dass das Wolfsbild sich in letzter Zeit wieder langsam wandelt. Schon bei Jack London ist der Wolf nicht mehr der rohe Bösewicht der Vergangenheit, sondern König der uns noch verbliebenen Natur weit entfernter nördlicher Wälder. Es war eben die Zeit frühkapitalistischer Ausbeutung und Machtentfaltung als, frei nach Charles Darwin, das Recht des Stärkeren propagiert wurde. Und so verwundert es auch nicht, dass ebenfalls die Nazis den Wolf in diesem Sinne missdeuteten und dem (Rudel-)Führer zusprachen. Und ebenso folgerichtig ist in unserer Zeit wahrlich bedrohlicher Naturzerstörung die neuerliche Wolfsromantik. Der Wolf ist heute „in“. Insbesondere in der Mittelschicht der eingeengten städtischen Grüngürtel. Hier kommt eine diffuse Sehnsucht nach unberührter Wildnis zum Tragen, die Abkehr vom tristen Alltag mit all seinen Beweisen für die Unzulänglichkeit des Menschen. Nur an seinen Wurzeln, in der Natur, sei der Mensch gut. Und an diesen Wurzeln steht eben auch der Wolf – nicht ganz zu Unrecht, wie wir wissen.
Nach beispielloser Verfolgung ist der Wolf heute aus großen Teilen seines einstigen Verbreitungsgebietes in Nordamerika und Europa verschwunden. In den letzten Jahren aber beobachten wir eine erneute Zunahme der Wolfspopulation in einigen seiner verbliebenen Rückzugsgebieten und als Folge davon eine Wiederbesiedelung der Gegenden, die bereits lange wolfsfrei waren: Spanien, die nördlichen Apenninen Italiens, die Seealpen Frankreichs, Mittelschweden und neuerdings auch Deutschland. Erste Wölfe siedeln bereits im Bayerisch-Böhmischen Wald und seit einigen Jahren dringen immer wieder Wölfe aus Polen über die Oder nach Brandenburg ein. Vereinzelt treten auch Wölfe in den Vogesen auf, in Österreich und in den letzten Jahren mehrmals auch in der Schweiz.
Die Ursache für diese erneute Ausbreitung des Wolfes liegt zum einen im Wandel der Land- und Waldnutzung in vielen Regionen Europas begründet, zum anderen aber auch im bereits erwähnten Wandel der Einstellung zum Wolf selbst. Dieser ist eher im städtisch geprägten und ökologisch sensibilisierten Teil der Bevölkerung zu beobachten, während in ländlich-agrarisch geprägten Bevölkerungsschichten weiterhin das alte Angst-Feindbild vorherrscht. Entsprechend kontrovers und heftig sind überall die Reaktionen auf die Wiederkehr des Wolfes.
Für die einen ist der Wolf zum Hoffnungsträger für eine nicht völlig vom Menschen bestimmte Umwelt geworden, zu einem Symbol für das abenteuerlich Unberechenbare in der Natur bis zu einer neuromantischen Zivilisationsabkehr und vermeintlich neuer Spiritualität.
Für die anderen ist seine Wiederkehr ein Rückfall in menschliche Abhängigkeit von der Natur und ihren dunklen Kräften, der Wolf ein Konkurrent des Menschen, Feind und Schädling seiner wirtschaftlichen Interessen.
Vom Ausgang dieser Auseinandersetzung hängt nicht nur die Zukunft des Wolfes ab. Es sind wir selber, die am Scheideweg stehen.
Entweder wir akzeptieren den Wolf als einen unverzichtbaren Teil unser aller Natur oder wir werden ihm
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