Mit der Linie 4 um die Welt
Bahn und fahre zwei Haltestellen weiter bis zum Hauptbahnhof. Hier endet die Thüringerwaldbahn und mit ihr meine Straßenbahnwanderung. 2007 wurde die Endhaltestelle zur Fußgängerzone mit Straßenbahnanschluss umgestaltet. Seitdem begrüßt die Gothaer Straßenbahn alle, die auf dem Bahnhofsvorplatz ankommen, mit einem Spruch an der Dachkonstruktion der Wendeschleife: »Denn man reist doch wahrlich nicht, um auf jeder Station einerlei zu sehen und zu hören«, von Johann Wolfgang von Goethe. Goethe, der Reiseschriftsteller, war in Thüringen immer schon vor mir da. Ich lüfte meinen unsichtbaren Hut, der schöner ist als der der Königin, und mache mich auf den Weg aus der Stadt. Der Zug nach Erfurt geht in drei Minuten.
Einmal längs
durch die Geschichte
Warschau, Polen
E ine Hochhaussiedlung der siebziger Jahre mit großen Satellitenschüsseln an den winzigen Balkonen, eine Filiale von McDonald’s mit weithin sichtbarem goldenem M, eine Autobahnauffahrt. Auf den ersten Blick wüsste man nicht, wo man sich befindet, sollte man aus Versehen mit dem Fallschirm hier landen. Der Fishburger ist im Sonderangebot für 3,50 zu haben. Eine Währung ist nicht angegeben. Sie heißt Złoty und wird auf den Finanzseiten der großen internationalen Zeitungen als überbewertet beschrieben. Die unbehauste Gegend ist die Peripherie von Warschau. Hinter der Ausfallstraße soll laut Stadtplan die Pferderennbahn Wyścigi liegen. Von der Endhaltestelle der Straßenbahnlinien 4, 19 und 33 aus ist sie nicht zu sehen, vielleicht existiert sie längst nicht mehr, mein Stadtplan ist aus den Achtzigern. Vielleicht hat man die postmodernen Betonklötze mit den Spitzgiebeln dorthin gebaut oder das gläserne Bürohaus mit der Nestlé-Reklame, das einen leeren Eindruck macht.
Der Straßenbahndispatcher schaut fern, der Apparat flackert. Rechts und links bewegen sich Autos auf den in weiten Bögen die Endhaltestelle umspannenden Auffahrten. Wer Warschau verlassen will, kann es hier versuchen. Wer ins Zentrum will, sollte die 4 nehmen.
Die Straßen rechts von der mit hoher Geschwindigkeit Richtung Innenstadt fahrenden Straßenbahn tragen Namen deutscher Komponisten. Johann Sebastian Bach hat die längste Straße bekommen. Sie endet nicht bei Sonaten und Kantaten, sondern bei McDonald’s Fishburgern und den Buden, von denen einige auch Wechselstuben sind. Der US -Dollar steht mit 3,92 Złoty zum Verkauf, 0,04 Złoty mehr als vergangenen Samstag.
© Annett Gröschner
Sollte man ein Charakteristikum von Warschau nennen, das nichts mit den üblichen Sehenswürdigkeiten zu tun hat, dann sind es diese Buden. Sie kommen auf der Stufenleiter des Handels knapp vor den Tapeziertischen unter freiem Himmel. In der Innenstadt hat man die meisten der Händler inzwischen in Hallen verbannt, hier stehen die Gebilde aus verschiedensten Baumaterialien dicht an dicht an der Hauptstraße auf eingezäunten Plätzen. Am Samstagnachmittag sind es leere Hüllen.
Die Linie 4 hat achtundzwanzig Haltestellen, die auf fünf Magistralen verteilt sind – die Puławska, die Marszałkowska, die Andersa, Mickiewicz und Słowackiego. Die Puławska ist eine unendlich lange Straße, die über sechshundert Hausnummern hat. Die Straßenbahn Nr. 4 bedient nur das erste Drittel. Wer hier in den siebziger oder achtziger Jahren eine Wohnung bekam, konnte von Glück reden. Jetzt wird der Stadtteil Ursynów von der ersten U-Bahnlinie unterquert, deren Planung und Bau eine unendliche Geschichte ist.
Der April geht seinem Ende zu, und zum ersten Mal ist es etwas wärmer. Der Winter war lang, wie zuletzt 1968, sagen die Warschauer, und trotz der Sonne wollte der Schnee noch Mitte April in den zahlreichen öffentlichen Parkanlagen nicht tauen. Jetzt haben die Buden mit der Lizenz zum Alkoholausschank die Bänke an die Ausfallstraße gestellt. Das haben die vier Männer, die an der Haltestelle Wilanowska einsteigen, offensichtlich genossen. Sie schwanken, setzen sich, denn im Sitzen fällt ihr Schwanken weniger auf. Jetzt sind sie nur laut, zeigen ihre Handys und können sich nicht einigen, wer das schönste hat. In der Bahn sind nach drei Haltestellen alle Sitzplätze vergeben.
»Ja, ich bin Europäer«, verkündet ein junger Mann von riesigen Werbetafeln, die entlang der Puławska stehen, und votiert für ein Ja zur EU . Zwar hat die Europäische Union einer Aufnahme Polens in ihre Reihen zugestimmt, aber das Volk muss noch entscheiden – und viele sind unschlüssig. Sie fragen
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