Mit der Linie 4 um die Welt
Quadratmetern 1955 nach drei Jahren Bauzeit beendet wurde, war Stalin tot, und auch einige der sowjetischen Arbeiter hatten den Bau nicht überlebt. Die Warschauer haben das Geschenk nie gemocht, Ausländer umso mehr. »Klein, aber fein«, ist der kürzeste Witz, den es über den Kulturpalast gibt. In den ausladenden Hallen bröckeln die Marmorplatten des Fußbodens.
Rundherum versuchen neue Wolkenkratzer den Bau an Höhe zu übertrumpfen. Gegenüber ducken sich drei Kaufhäuser, die wie ein Riegel die Sicht auf die dahinterliegenden alten Straßen versperren. In einem alten DDR -Reiseführer über Warschau von 1980 wird das Ensemble aus drei Wohnhochhäusern, acht Zehngeschossern, dem Rundbau der PKO -Sparkasse und den Kaufhäusern als » OSTWAND , das moderne Zentrum der polnischen Hauptstadt« beschrieben. In ihrem Schatten ist der Wind nicht so stark, der beständig durch Warschau weht. Hier, an diesem Verkehrsknotenpunkt der Stadt, steigen viele aus und noch mehr ein.
Jüngere stehen in der Straßenbahn für Ältere noch auf. Ein alter Mann lüftet als Dank leicht den Hut vor einer Frau, die sich anschickt, ihm ihren Platz anzubieten. Ab und an werden vor dem Aussteigen Handküsse an die Damen verteilt, ein Relikt, von Männern jenseits der fünfzig über die unfreundlichen Zeiten gerettet.
An der Świętokrzyska will eine der mittleren Türen des Waggons nicht mehr schließen. Nach einer Weile kommt der Fahrer nach hinten geschlendert, drückt die Tür mit beiden Händen zu und schlendert zu seinem Fahrerhäuschen zurück. Er trägt Gesundheitssandalen zur Uniform, was den Eindruck vermittelt, die Tür habe ihn bei seiner Lieblingsfreizeitbeschäftigung gestört. Sie blockiert weiterhin. Die Ersten steigen aus. Der Fahrer kommt noch einmal und bittet, in den Triebwagen zu wechseln. Es ist ein komisches Bild, das sich dann zeigt: der erste Wagen eine Stopfgans, der zweite leer, so geht es die Marszałkowska hinunter. Niemand regt sich auf.
Rechts neben den Schienen zieht sich der Sächsische Garten entlang, dessen Anlage aus der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts stammt. Andere Grünanlagen sind jüngeren Datums. Unter deren Grasnarbe befindet sich das alte Warschau. Auf der anderen Straßenseite beschreibt ein Gebäude einen Bogen. Es ist das Hotel Saski, das von allen Hotelgästen verlassen zu sein scheint. Dahinter befand sich das Warschauer Ghetto, dessen Spuren die deutschen Nazis, die 1943 und 1944 die Innenstadt systematisch in Schutt und Asche legten, für immer verwischen wollten. Nach dem Krieg waren die Schuttberge so gewaltig, dass man aus Mangel an Abräumgeräten die neuen Häuser in die Trümmersteinmassen hineinbaute, die Fundamente drei Kelleretagen tief im Erdreich verankert. Dass der Boden in Bewegung ist, sieht man an den Rissen in den Hauswänden und den Steinen, die sich aus dem Erdreich emporarbeiten. Und wenn man eines dieser Häuser betritt und einen Treppenabsatz in den Keller geht, weiß man, dass die Geschichte ausatmet.
Vor dem Rathaus, eines der seltenen alten Gebäude in der Innenstadt, das den Krieg überstanden hat, stand bis 1989 das Denkmal für Feliks Dzierżyński, den Begründer des sowjetischen Staatssicherheitsdiensts. An seine Stelle hat man 1999 Juliusz Słowacki gestellt, den Nationaldichter Polens.
Bis zur Eröffnung der Metrostation Ratusz bog die 4 am Bankenplatz nach rechts ab und überquerte die Weichsel, um im alten Stadtviertel Praga auf der östlichen Weichselseite zu enden. Jetzt fährt sie geradeaus. Hinter dem Danziger Bahnhof beginnt der Wohnbezirk Żoliborz, dessen älterer Teil zwischen den beiden Weltkriegen entstand. Es ist die polnische Variante des sozialen Wohnungsbaus, die sich nur in Nuancen von den Siedlungen der zwanziger Jahre in Deutschland unterscheidet. Einige wenige Häuser sind aufwendig renoviert worden. Hinter dem großen Rondell des Wilsonplatzes steht die Kirche mit dem Grab des Priesters Jerzy Popiełuszko, der 1984 von der polnischen Staatssicherheit ermordet wurde. Die Kirche war vor 1989 eine Art Wallfahrtsort, und auch heute ist sie während des Gottesdiensts bis auf den letzten Platz besetzt.
An der Słowackiego klopft eine alte Frau mit altrosa Hut mit dem Stock gegen das Fenster des Fahrerhauses und begehrt Einlass, nachdem die Bahn schon angefahren ist. Die Bahn hält extra für sie an, dann sitzt sie und stiert bis zur Endhaltestelle böse auf ein Apothekenrezept. Dort ruft der Fahrer den säumigen Fahrgästen
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