Mit der Linie 4 um die Welt
und lange den Beinamen Puppenstadt hatte, weil sich im neunzehnten Jahrhundert zuerst die Puppenindustrie ansiedelte. Zu DDR -Zeiten wurden hier drei bedeutende Markenartikel hergestellt: die Puppe Biggi, der Gummireifen Kowalit (»Der Favorit fährt Kowalit«) und das Allzweck-Transportfahrzeug Multicar. Der Fahrzeughersteller firmiert immer noch unter diesem Namen in Waltershausen, und auch die Gummifabrik gibt es noch als Zweigwerk von Continental. Nur die Puppen werden in Billiglohnländern produziert. In der alten Puppenfabrik an der Endhaltestelle der 6 lebt heute eine Kommune.
Am Dreieck Waltershausen steigt eine Gruppe Sechstklässler in die Thüringerwaldbahn ein. Die Fahrerin möchte die Jungs gleich wieder loswerden, weil sie auf den Stufen der Tür sitzen. Die wollen aber nicht auf die nächste Bahn warten und verziehen sich ins Heck, wo sie die Mädchen mit Papierkugeln bewerfen. Über so viel geballte Babyhaftigkeit können die aber nur lachen. Sie wirken zehn Jahre älter, gehen aber in dieselbe Klassenstufe, was man alleine an der Zahl 6 auf den Schulbüchern erkennen kann. Neben den Kindern ist eine junge Frau mit einem Kinderwagen zugestiegen. Sie hat ein Tattoo am Bein, dessen Blumenmotiv mit chinesischen Zeichen überstochen worden ist.
In Waltershausen-Wahlwinkel wirbt eine Eiscremefirma aggressiv mit dem Sommereis: »Dr. Schiwago. Jetzt mit Happyend. Himbeer und Schokolade.« Die Bahn ist an dieser Stelle so langsam, dass man beim Vorbeifahren sogar die Ingredienzenliste lesen kann. Dann fahren wir durch Kleingärten, wo frei laufende Hühner und Gänse den Gleisen gefährlich nahe kommen. Eine auf eine Harke gestützte Frau winkt mit der anderen Hand der Straßenbahn etwas zu enthusiastisch hinterher, als würde sie im Rahmen einer vom Arbeitsamt finanzierten Bürgerarbeit dafür bezahlt werden.
Hinter Waltershausen öffnet sich die Landschaft. Man kann die Jungs vom Heckfenster verdrängen und auf die Ausläufer des Thüringer Waldes mit dem alten Sendeturm auf dem Großen Inselsberg schauen, der langsam aus dem Blickfeld verschwindet. Auf einer Wiese stehen Rehe. Wenn die Felder im Herbst abgeerntet sind, müssen Schneezäune aufgestellt werden, um die Schienen vor Verwehungen zu schützen – ein Grund dafür, dass die Planung der Bahn Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts so lange dauerte. Erst musste die Strecke gefunden werden, die den Naturgewalten am wenigsten ausgesetzt war. In Leina kreuzen wir die Autobahn. An der Haltestelle Boxberg, wo es eine berühmte Pferderennbahn gibt, die aber von der Bahn aus nicht zu sehen ist, kann man die Türme von Gotha im Tal schon erkennen. In Sundhausen hat es den Anschein, als führe die Bahn wie schon in Wahlwinkel mitten durch das Leben der Menschen, die dort wohnen. Man sieht Kinder auf dem Schulhof, Leute in den Gärten, beim Herumwerkeln an den Häusern oder bei ersten Liebesanbahnungen an der Haltestelle. Die Kinder in der Straßenbahn schreien: »Achtung, Pferde!« Und da sind sie auch schon, eine ganze Koppel voll. Ein Kind spricht die Ansage nach: »Nächste Haltestelle: Schöne Aussicht«, zehn Mal hintereinander, bis der Mutter die schöne Aussicht reicht und sie dem Kind den Mund zuhält. Aber das hindert es nicht daran, noch zehn Mal »Schöne Aussicht« zu brummen. Als Nächstes kriegt das Kind eine Kopfnuss von der Mutter, und dann ist es still.
Wir halten an der Haltestelle Wagenhalle in Gotha. Vor dem Depot steht eine alte Gothaer Straßenbahn. Ich habe sie in Magdeburg, in Naumburg, in Istanbul, in Woltersdorf bei Berlin und in Jena gesehen. Aber hier ist der Name der Bahn endlich deckungsgleich mit dem Namen der Stadt. Gothaer Straßenbahnen wurden seit 1898 in der Gothaer Waggonfabrik hergestellt. 1949 erfolgte die Verstaatlichung der Gothaer Waggonfabrik AG als VEB Waggonbau Gotha. Bis in die sechziger Jahre hinein war er der alleinige Hersteller von Straßenbahnwagen in der DDR , erst der Marke LOWA und dann der Marke Gotha, vor allem die zweiachsigen Wagen ET 57 und EB 57, Triebwagen und Beiwagen, wurden in großen Stückzahlen produziert. Insgesamt dreitausend Straßenbahnen verließen bis 1967 das Werk und verteilten sich in der halben Welt. Nachdem im Rahmen des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe die Waggonfabrik in Prag Alleinhersteller von Straßenbahnen der Marke Tatra im Ostblock wurde, musste Gotha die Produktion einstellen und produzierte fortan Kühlanlagen und Pkw-Teile.
Gotha
Hinter der Haltestelle
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