Mit der Linie 4 um die Welt
Wagenhalle ist man plötzlich in der Stadt. Von hier an übernimmt die Thüringerwaldbahn die ganz normalen Funktionen einer Straßenbahn, die an jeder zweiten Kreuzung hält, Fahrgäste einsammelt und in der Stadt verteilt. Neun Stopps sind es noch bis zur Endhaltestelle am Bahnhof. Die höchste Einwohnerzahl hatte Gotha im Jahr 1975: 58 761. Im ersten Quartal 2012 waren es noch 44 469, genauso viele wie Mitte der zwanziger Jahre. Man könnte theoretisch die Stadt auf den Stand der späten zwanziger Jahre kreisförmig von innen nach außen zurückbauen. Kein P2, kein Q3A und kein WBS 70 mehr. Das tut natürlich niemand, und so stehen viele Gründerzeitgebäude leer.
Die meisten in der Bahn, die jetzt eher die 4 als die Thüringerwaldbahn ist, sind auf dem Weg in die Altstadt, eine durchgehende Fußgängerzone mit kleinen Geschäften und Cafés. Es gibt kaum Leerstand. Bis zu jenem Luftangriff im Jahr 1944, als eine Mine den halben Neumarkt zerstörte, fuhr die Straßenbahn durch die Altstadt. Jetzt umfährt sie sie. Märkte und Straßen sind belebt, im Brunnen vor der Margarethenkirche am Neumarkt baden Kinder, die Eltern haben sich zu einem Bier unter die Bäume verzogen und ihre Taschen und Kinderwagen wie einen Burgwall um sich herumgestellt. An einer anderen Stelle der Innenstadt werde ich aufgehalten, um unfreiwillig Zeuge einer Folge aus der Serie Imbiss mit Trinkern zu werden. Darsteller sind Hannes, Horst und Uwe sowie Rosi mit ihrem Hund. Rosi steht hinter dem Ladentisch eines Imbisses. Gerade aber steht sie davor und diskutiert mit den Männern. Ein vierter Mann kommt und will etwas kaufen, Rosi macht sich in ihre Bude auf. Das geht nicht so schnell. Was er wünsche, blafft sie. Er flüstert seinen Wunsch fast. »Nee«, sagt Rosi, brüllt beinahe, »die Bockwurst muss ich erst warm machen, und der Kaffee ist nicht mehr warm.« Der Mann trollt sich. Die drei Männer trinken Meininger Schloss-Pils und reden Blödsinn. »So isses.« Der Hund, eigentlich ein Rehpinscher, aber zur fetten Ratte angefüttert, erkundet breitbeinig trippelnd die Gegend. »In England hätten se dich schon auf’n Grill gelegt.« Das Wort England nimmt man in Gotha gern in den Mund. Die Männer wiehern über den Witz von Uwe. »Komm rein«, sagt Rosi zum Hund, »die Ollen wollen dich schon wieder fressen.«
Hinter dem Stadtkern erhebt sich Schloss Friedenstein, besser gesagt: Ihm liegt die Residenzstadt zu Füßen. Als 1640 Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha-Altenburg, genannt Ernst der Fromme, nach einer Erbteilung Gotha als Hauptstadt für sein neues Herzogtum bekommen hatte, begann er mit der Planung des barocken Schlosses, das unter der Regentschaft Ernsts II . zwischen 1772 und 1804 seine Blütezeit erlebte. Das Schloss gehört heute einer landeseigenen Stiftung und beherbergt eine Gemäldegalerie mit bedeutenden Gemälden von Cranach, von altdeutschen, holländischen und flämischen Malern des fünfzehnten bis siebzehnten Jahrhunderts und dem berühmten Tafelgemälde des Hausbuchmeisters, das »Gothaer Liebespaar«, ein Münzkabinett, eine Bibliothek, das Thüringische Staatsarchiv Gotha, ein kulturwissenschaftliches Forschungszentrum der Erfurter Universität und das Ekhof-Theater. Gotha rühmt sich der besten Beziehungen zum Haus Windsor, das bis 1917 den Namen Saxe-Coburg and Gotha trug, den es nur wegen des Ersten Weltkriegs zugunsten des Namens Windsor ablegte. Verloren hatten die Gothaer die Regentschaft an die britische Nebenlinie nach dem Tod Ernsts II . von Sachsen-Coburg und Gotha 1893, der zwar viele Kinder, aber leider keine ehelichen hatte.
Inzwischen geht die Liebe der Stadt Gotha zur Queen, mit der der Bürgermeister einen Briefwechsel pflegt – böse Zungen behaupten, es sei nur der Kammerdiener der Königin, der die Briefe beantworte –, so weit, dass im Schloss neben den Werken von Lucas Cranach d. Ä. auch ein Hut der Königin Elizabeth II . ausgestellt wird. Über den heißt es etwas blumig in einer Presseerklärung des Schlosses: »In der Schwarzen Galerie ist der immer noch einen spürbaren Wohlgeruch verbreitende Hut durchaus am rechten Platz.« Ich frage mich besorgt, ob der Direktor für Kommunikation auf Schloss Friedenstein beim Abfassen seines Texts wohl wirklich seine Nase in den Hut gesteckt hat. Angeblich ist das Schloss aber auch im Besitz eines der letzten sechs, noch existierenden Zweispitze von Napoleon. Über dessen Geruch wird nichts mitgeteilt.
An der Orangerie steige ich wieder in die
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