Mit der Linie 4 um die Welt
anderen Regenten teilt. Eine seiner Besucherinnen, Victoria, heiratete Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha und brachte es bis zur Königin von England. Sie ließ eine Kopie des Schlosses in Schottland errichten. Nach der Jagd feierte man in allen Sälen. Die Musik war bis nach Friedrichroda zu hören, dessen Bewohner Mitte des neunzehnten Jahrhunderts von der Bleicherei, dem Zwirnhandel und der Drillichweberei lebten, bis industriell hergestellte und somit billigere Baumwolle aus England die Preise verdarb. Erst das Kurwesen verhalf der Stadt zu neuer Blüte.
Die Geschichte des Schlosses nach der Wiedervereinigung ist eine dieser traurigen Treuhanderzählungen. Seit 1961 war es ein exklusives Hotel des Reisebüros der DDR , Anfang der neunziger Jahre wurde es von der westdeutschen Travel Charme Hotel GmbH übernommen, die aber bald nur noch ein Nebengebäude als Hotel nutzte. Der Umbau des Schlosses wurde geplant, aber nie realisiert. Irgendwann verlor der Hotelbetreiber das Interesse und verkaufte Schloss und Park. Zwischendurch ging alles für den sagenhaften Preis von 1 Euro an einen englischen Immobilienmakler. Nun gehört die Anlage einem russischen Unternehmen mit Sitz in Moskau; wegen der Grundstücksabwicklung mit dem letzten Eigentümer liegt der Staatsanwaltschaft Erfurt eine Anzeige wegen des Verdachts der Geldwäsche vor. Das Schloss ist dramatisch verfallen, die Natur holt sich den Park zurück, auf dem Karpfenteich ist die Entengrütze so dicht, dass er wie eine Wiese aussieht. Hohe Gitterzäune verhindern den Eintritt. Der Ausgang der Geschichte ist offen. Unter den Einwohnern Friedrichrodas machte das Wort Enteignung die Runde, aber die ist ausgeschlossen. Vom Schloss sind es wenige Hundert Meter bis zum gleichnamigen Bahnhof und dem Haltepunkt der Thüringerwaldbahn.
Der Bahnhof Reinhardsbrunn war in den siebziger Jahren oft so voll, dass der Fahrkartenverkäufer, der gleichzeitig den Zug abfertigen musste, nicht alle bedienen konnte. Heute ist das Bahnhofsgebäude eine verrammelte Ruine mit Fahrkartenautomat. Niemand bittet einen mehr zurückzutreten, wenn der Dieseltriebwagen nach Fröttstädt oder Friedrichroda einfährt, stattdessen zeigt ein neonfarbener Strich den Abstand an, der zum Zug einzuhalten ist. Zwischen den Gleisen wächst Unkraut. Aber wenigstens fährt der Zug noch, wenn auch alles etwas provisorisch wirkt. Für den barrierefreien Zugang zu den neuen Talent-Zügen hat man ein Podest aus Pappe gebaut. Man tritt als Fahrgast auf eine kleine Bühne und wartet auf den Auftritt, der im Betreten des Zuges besteht.
Der Weg mit der Thüringerwaldbahn dauert länger, aber er ist schöner. Zwischen Reinhardsbrunn und Schnepfenthal fahren für einen kurzen Moment Eisenbahn und Straßenbahn nebeneinander. Ein rot-weißes Drehkreuz an den Reinhardsbrunner Teichen soll verhindern, dass jemand, ohne innezuhalten, über die Gleise geht und unter eines der beiden Schienenfahrzeuge gerät. Genau so stellte ich mir später das Drehkreuz vor, das der Literaturfunktionär Michail Alexandrowitsch Berlioz in Michail Bulgakows Der Meister und Margarita passierte, um von der Straßenbahn erfasst zu werden und seinen von Voland angekündigten Tod zu erleiden.
Waltershausen
Weiter als bis Waltershausen-Schnepfenthal bin ich als Kind nie gekommen. Meinen Großeltern waren Friedrichroda und Tabarz genug. Ich beobachtete die Forellen in den von Mönchen des Klosters angelegten Reinhardsbrunner Teichen, sammelte Heidelbeeren, erkundete den Landschaftspark mit den seltenen Pflanzen oder fuhr Boot auf dem Gondelteich. Wenn es warm war, gingen wir ins Schwimmbad an der Waldbahnstation Friedrichroda, wo man vom Zehn-Meter-Sprungturm über den Thüringer Wald sehen konnte. Dort wurden auch Luftbäder angeboten, doch darunter konnte ich mir genauso wenig vorstellen wie unter einem Luftkurort. In Schnepfenthal ist eine der Wiegen der Reformpädagogik und des Turnsports. Johann Christoph Friedrich GutsMuths hat hier den ersten Turnplatz Deutschlands für die Schüler der von Christian Gotthilf Salzmann 1784 gegründeten Erziehungsanstalt anlegen lassen. Salzmann war ein Reformpädagoge. Heute befindet sich in den Räumen eine Spezialgymnasium für Sprachen, keine hundert Meter von der Waldbahnhaltestelle entfernt.
Dreieck Waltershausen ist der wichtigste Umsteigepunkt der Strecke. Mit der 6 ist man nach drei Haltestellen auf dem Marktplatz der Stadt, die bis heute eine nicht unbedeutende Industriestadt ist
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