Mit der Reife wird man immer juenger
ausgesprochen, bei welcher zwar die Menschen nicht minder vergnügt zu sein schienen als in früheren Zeiten, die ihm aber doch eines differenzierten Menschen eigentlich unwürdig schien. Diese Arrangements mit Reisebüros, diese Ausnützung der jeweiligen Valutazustände, dieses rasche, oberflächliche Reisen durch Länder, deren Sprachen und Kulturen der Reisende nicht kennt, wobei Venedig zum abendlichen Vergnügungsdorf eines Strandbades, Marseille zu einem Restaurant fürFischsuppen, Palästina und Ägypten zu Dekorationen für verwöhnte Gäste von Luxushotels wurden, dies alles schien ihm auf Verfall und Verflachung zu deuten, und wenn man ihm einwandte, die Welt sei jünger geworden und statt gelehrter und tiefsinniger Reisen im Stil von Goethe oder Humboldt liebe man heute mit Recht das Einfachere, Naive und Wohlbekömmliche, die Strandbäder, den Sport, die unbekümmerten und vom Geist nicht angekränkelten Allüren der Jugend, dann lachte er abweisend und meinte, daß die Menschen immer jugendlicher würden sei allerdings nicht zu leugnen, bald würden sie auch schon die Strandbäder und Sportplätze nicht mehr brauchen, sondern, noch jünger geworden, sich mit den Wonnen des Daumenlutschens begnügen. Zur Zeit schien er diese etwas mürrischen Äußerungen vergessen zu haben, jedenfalls ließ er sich durch sie nicht davon abhalten, selbst wieder an das Reisen und an Italien zu denken …
(um 1936)
Keine Rast
S eele, banger Vogel du,
Immer wieder mußt du fragen:
Wann nach so viel wilden Tagen
Kommt der Friede, kommt die Ruh?
O ich weiß: kaum haben wir
Unterm Boden stille Tage,
Wird vor neuer Sehnsucht dir
Jeder liebe Tag zur Plage.
Und du wirst, geborgen kaum,
Dich um neue Leiden mühen
Und voll Ungeduld den Raum
Als der jüngste Stern durchglühen.
W er alt geworden ist und darauf achtet, der kann beobachten, wie trotz dem Schwinden der Kräfte und Potenzen ein Leben noch spät und bis zuletzt mit jedem Jahr das unendliche Netz seiner Beziehungen und Verflechtungen vergrößert und vervielfältigt und wie, solange ein Gedächtnis wach ist, doch von all dem Vergänglichen und Vergangenen nichts verloren geht.
(Aus »Weihnachtsgaben«, 1956)
Welkes Blatt
J ede Blüte will zur Frucht,
Jeder Morgen Abend werden,
Ewiges ist nicht auf Erden
Als der Wandel, als die Flucht.
Auch der schönste Sommer will
Einmal Herbst und Welke spüren.
Halte, Blatt, geduldig still,
Wenn der Wind dich will entführen.
Spiel dein Spiel und wehr dich nicht,
Laß es still geschehen.
Laß vom Winde, der dich bricht,
Dich nach Hause wehen.
[Einklang von Bewegung und Ruhe]
D er Frühling ist für die meisten alten Leute keine gute Zeit, er setzte auch mir gewaltig zu. Die Pülverchen und ärztlichen Spritzen halfen wenig; die Schmerzen wuchsen üppig wie die Blumen im Gras, und die Nächte waren schwer zu bestehen. Dennoch brachte jeder Tag in den kurzen Stunden, die ich draußen sein konnte, Pausen des Vergessens und der Hingabe an die Wunder des Frühlings, und zuweilen Augenblicke des Entzückens und der Offenbarung, deren jeder des Festhaltens wert wäre, wenn es nur eben ein Festhalten gäbe, wenn diese Wunder und Offenbarungen sich beschreiben und weitergeben ließen. Sie kommen überraschend, dauern Sekunden oder Minuten, diese Erlebnisse, in denen ein Vorgang im Leben der Natur uns anspricht und sich uns enthüllt, und wenn man alt genug ist, kommt es einem dann so vor, als sei das ganze lange Leben mit Freuden und Schmerzen, mit Lieben und Erkennen, mit Freundschaften, Liebschaften, mit Büchern, Musik, Reisen und Arbeiten nichts gewesen als ein langer Umweg zur Reife dieser Augenblicke, in welchen im Bilde einer Landschaft, eines Baumes, eines Menschengesichtes, einer Blume sich Gott uns zeigt, sich der Sinn und Wert alles Seins und Geschehens darbietet. Und in der Tat: Haben wir auch vermutlich in jungen Jahren den Anblick eines blühenden Baumes, einer Wolkenformation, eines Gewitters heftiger und glühender erlebt, so bedarf es für das Erlebnis, das ich meine, doch eben des hohen Alters, es bedarf einer unendlichen Summe von Gesehenem, Erfahrenem, Gedachtem, Empfundenem, Erlittenem, es bedarf einer gewissen Verdünnung der Lebenstriebe, einer gewissen Hinfälligkeit und Todesnähe, um in einer kleinen Offenbarung der Natur den Gott, den Geist,das Geheimnis wahrzunehmen, den Zusammenfall der Gegensätze, das große Eine. Auch Junge können das erleben, gewiß, aber seltener, und ohne diese Einheit von
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