Mit der Reife wird man immer juenger
Steinen« schildert. Etwas andres ist es dagegen, daß der Mensch im Erleben wie im Beobachten häufig solche Sprünge zu erblicken meint, indem ein langsam und lange Vorbereitetes plötzlich reif vor seinen Augen vom Ast fällt. So geht es den meisten mit dem Altwerden; es geht unmerklich vor sich, aber es gibt Augenblicke, in welchen dem Alternden plötzlich ein Spiegel vorgehalten, eine Probe auferlegt wird, und sich denn der unbemerkt gebliebene Verfall plötzlich grob und oft erschreckend enthüllt.
Der Mann, von dem die Rede ist, war in seinen jungen Jahren viel gereist. Namentlich war er jedes Jahr einmal nach Italien gefahren und hatte dort Tage oder Wochen, je nachdem, damit verbracht, durch alte ehrwürdige Städte und Städtchen zu schlendern, an Kathedralen und Türmen empor zu blicken, Sammlungen alter Kunstwerke zu durchwandern, eine Übung, welche seit Winckelmann und Goethe so viele gepflegt haben, und bei welcher sein eigentliches Vorbild der Gelehrte war, den er am meisten liebte, der Basler Jakob Burckhardt. Außer Mailand, Florenz und Venedig lernte er auf diese Weise eine große Zahl italienischer Städte kennen und manche wurde ihm so lieb, daß er öfter zu ihr zurückkehrte. Andre wieder, an sich verlockend und verheißungsvoll genug, blieben unbesucht, und es waren dies weniger die sehr abgelegenen und mühsamer zuerreichenden Orte, als vielmehr gerade solche, die an den großen Eisenbahnlinien lagen und deren Bahnhöfe der Mann des öfteren zu Gesicht bekommen hatte, jedesmal mit dem Gedanken, auch hier einmal aussteigen zu wollen, um sein Buchwissen um diese Stadt in lebendige Bilder und Erlebnisse zu verwandeln, jedesmal freilich auch mit dem Gedanken, daß es damit keine Eile habe.
Die letzte Reise dieser Art hatte den Mann an den Gardasee und Iseo-See und nach Brescia geführt, sie hatte mit einer langen, überaus schönen Fahrt auf dem Lago Maggiore geendet, von Arona bis ans Nordende des Sees, bei einem glasklaren, aufregend windigen Föhnwetter, und er hatte damals, wie ihm nachher schien, schwerer als sonst von Italien Abschied genommen. Es war im Frühling des Jahres 1914 gewesen, und war die letzte Italienreise des Mannes geblieben, denn kurz darauf begann der große Krieg, und als er zu Ende war, hatte der Mann an andres zu denken als an schöne und belehrende Reisen, es war ihm die Jugend und ein Teil Lebensfreude entschwunden, und Jahr um Jahr ging hin, schwere Jahre und erträgliche Jahre, und langsam, wie sich in der Abendstunde das Licht verliert und einsickert, bis alles grau ist, war aus dem Leben und dem Gemüt des Mannes die Jugend und die Reiselust und mancher andre Trieb und manches andre Licht entsickert und verlorengegangen, bis er eben dort stand, wo wir ihm begegneten, im sechzigsten Jahre, ein fleißiger und geistig noch kaum ermüdeter Mann, aber ein Mann mit Gewohnheiten und Beschwerden, einem großen Alltag und wenig Feiertag, noch weit weg vom Ende, noch keiner großen Krankheit verfallen, aber doch eben verwelkt und schwer beweglich, kein Freund von Festen, kein Freund von Überraschungen und schnellen Entschlüssen, kein neugieriger Wanderer undReisender mehr, dem der Anblick eines fernen blauen Berges, einer schwebenden Goldwolke am Horizont das Herz umdrehen kann vor Reisetrieb und ungestillter Liebe zur Schönheit der Welt.
Im letztvergangenen Jahr hatten ihn mehrere Schläge und Verluste getroffen, bei deren Erleiden und Ertragen er gespürt hatte, daß sie ihn bis in die Wurzeln der Lebenskraft verletzt hatten. Es war jedoch dieser schlechten Zeit eine freundlichere gefolgt, es waren Zeichen der Liebe und Treue von alten Freunden eingetroffen, und allmählich hatte er wieder Vertrauen gefaßt und sich daran gewöhnt, ohne Abwehr oder Ironie diesen und jenen Hinweis auf das bevorstehende Jubiläum des 60. Geburtstages hinzunehmen, ja sich ihrer leise zu freuen. In dieser gelassenen und eher heiteren Stimmung begann er auch mit dem Gedanken zu spielen und zu liebäugeln, vielleicht doch noch einmal nach Italien zu fahren, vielleicht doch noch einmal, nach mehr als zwanzig Jahren, es mit einer Reise nach Toskana oder Umbrien, mit dem Spazieren durch fremde schöne Städte und Landschaften, mit den kleinen Reizen und Abenteuern des Reiselebens zu versuchen. Zwar hatte er seit Jahren dem Reisen, und gar dem Reisen zum bloßen Vergnügen, recht eigentlich abgeschworen und oft genug seine Unzufriedenheit mit der inzwischen Mode gewordenen Art des Reisens
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