Mit dir an meiner Seite
gefährden. Ronnie hatte erlebt, wie sich ihre Mutter bitter beschwerte, während sich ihr Vater immer mehr in sein Schneckenhaus zurückzog, was er tendenziell von jeher getan hatte. Und eines Tages kam er von einer längeren Konzertreise durch die Südstaaten einfach nicht mehr nach Hause zurück. Soweit Ronnie wusste, arbeitete er zurzeit überhaupt nicht mehr. Er gab nicht einmal Privatstunden.
Wie konnte es so weit kommen, Dad?
Sie schüttelte den Kopf. Nein, sie hatte nicht die geringste Lust, hier zu sein. Sie wollte mit dem Ganzen nichts zu tun haben.
»Hey, Mom!« Jonah beugte sich nach vorn. »Das da drüben - ist das ein Riesenrad?«
Mom reckte den Hals und versuchte, an dem Minivan vorbeizusehen, der in der Spur neben ihr fuhr. »Ich glaube, ja«, sagte sie. »Anscheinend gibt es hier einen Jahrmarkt.«
»Können wir hingehen? Wenn wir alle miteinander zu Abend gegessen haben?«
»Das musst du deinen Vater fragen.«
»Ja, und danach sitzen wir um ein Feuer herum und rösten Marshmallows«, warf Ronnie ein. »Wie eine große, glückliche Familie.«
Diesmal ignorierten die anderen beiden sie wortlos.
»Meinst du, es gibt auch ein Karussell? Eine Achterbahn?«, fragte Jonah.
»Ganz bestimmt. Und wenn dein Vater nicht mit dir fahren möchte, musst du nur deine große Schwester fragen. Sie kommt bestimmt mit.«
»Supercool!«
Ronnie sank in sich zusammen. Typisch, dass ihre Mom so etwas vorschlug. Es war alles so maßlos deprimierend, dass man es kaum glauben konnte.
Kapitel 2
Steve
Steve Miller spielte Klavier. Er war zwar sehr konzentriert, aber auch unruhig. Jede Minute konnten seine Kinder eintreffen.
Seit Kurzem wohnte er in einem kleinen Strandbungalow, und der Flügel stand in einem Alkoven, einer Art Nische, die vom Wohnzimmer abging. Dort hatte er auch die paar persönlichen Dinge aufgehängt, die zu seiner Lebensgeschichte gehörten. Viel war es nicht. Abgesehen von dem Flügel hatte Kim seine sämtlichen Habseligkeiten in eine einzige Kiste gestopft, und innerhalb einer halben Stunde waren sie wieder ausgepackt gewesen. Es gab einen Schnappschuss von ihm mit seinen Eltern, als er noch klein war, und ein Foto, auf dem er als Jugendlicher Klavier spielte. Diese Bilder hingen zwischen seinen beiden Abschlussdiplomen, das eine von der Chapel Hill University, das andere von Boston, und darunter befand sich die Urkunde der Juilliard School of Music, an der er fünfzehn Jahre unterrichtet hatte. Neben dem Fenster hingen drei gerahmte Terminpläne mit seinen Tourneedaten. Noch wichtiger waren allerdings die sechs Fotos von Jonah und Ronnie. Zwei hatte er mit Reißnägeln an der Wand befestigt, die anderen standen gerahmt auf dem Flügel, und immer, wenn er sie anschaute, wurde er daran erinnert, dass nichts in seinem Leben so gekommen war, wie er es sich vorgestellt hatte - dabei hatte er doch immer nur das Beste gewollt.
Die Spätnachmittagssonne schickte ihre schrägen Strahlen durch die Fenster, wodurch die Luft ziemlich stickig wurde. Steve spürte, wie sich auf seiner Stirn Schweißtropfen bildeten. Zum Glück hatten die Magenschmerzen von heute Morgen etwas nachgelassen, aber er war seit Tagen extrem nervös und wusste, die Schmerzen würden wiederkommen. Er hatte schon immer einen empfindlichen Magen gehabt. Mit zwanzig bekam er ein Magengeschwür und musste wegen einer schweren Darmentzündung ins Krankenhaus, mit dreißig wurde er am Blinddarm operiert, nachdem dieser geplatzt war, und das passierte ausgerechnet in der Zeit, als Kim mit Jonah schwanger war. Er lutschte Magentabletten wie andere Leute Bonbons ; jahrelang hatte er Nexium geschluckt. Klar, er wusste, dass er gesünder essen und sich mehr bewegen sollte, aber insgeheim bezweifelte er, ob das tatsächlich etwas helfen würde. In seiner Familie hatten alle Probleme mit dem Magen.
Vor sechs Jahren war sein Vater gestorben, und das hatte ihn sehr verändert. Seit dem Begräbnis quälte ihn das Gefühl, dass nun für ihn der Countdown begonnen hatte. Und so ganz falsch war das nicht. Vor fünf Jahren hatte er seine Stelle an der Juilliard School gekündigt, um ein Jahr später sein Glück als Konzertpianist zu versuchen. Und es war jetzt drei Jahre her, dass Kim und er beschlossen hatten, sich endgültig zu trennen. Danach dauerte es keine zwölf Monate, bis die Krise einsetzte: Er bekam immer weniger Engagements, bis er schließlich gar nicht mehr gebucht wurde. Im vergangenen Jahr war er hierhergezogen - zurück
Weitere Kostenlose Bücher