Mit dir an meiner Seite
ihre Mutter in den Rückspiegel.
»Du freust dich auf die Ferien, stimmt's, Jonah?«
»Klar. Das wird bestimmt cool hier.«
»Nur gut, dass du so denkst. Vielleicht kannst du deiner Schwester das noch beibringen.«
Jonah schnaubte verächtlich. »Ja, klar.«
Ronnie meldete sich wieder zu Wort. »Ich sehe einfach nicht ein, warum ich nicht den ganzen Sommer mit meinen Freundinnen rumhängen kann.« Sie war noch nicht bereit aufzugeben. Ihr war klar, dass ihre Chancen gleich null waren, aber irgendwie hoffte sie doch noch, sie könnte ihre Mutter überreden, einfach umzudrehen und zurückzufahren.
»Das heißt doch nur, du möchtest jeden Abend in die Disco oder in einen Club gehen, stimmt's? Ich bin nicht naiv, Ronnie. Ich weiß, was da los ist.«
»Ich mache nichts Verbotenes, Mom!«
»Und was ist mit deinen Schulnoten? Und mit dem Heimkommen abends? Und -«
»Können wir das Thema wechseln?«, unterbrach Ronnie sie. »Ich möchte lieber darüber reden, warum es so unbedingt nötig ist, dass ich meinen Vater besuche.«
Darauf ging ihre Mutter nicht ein, und im Grunde wusste Ronnie ganz genau, warum. Sie hatte die Antwort auf diese Frage ja schon tausendmal gehört, konnte aber die Entscheidung einfach nicht akzeptieren.
Endlich begann der Verkehr wieder zu fließen - nach ein paar Hundert Metern war allerdings schon wieder Schluss. Mom kurbelte ihr Fenster herunter und versuchte, die Ursache zu ergründen.
»Keine Ahnung, was los ist«, murmelte sie. »Die Straße ist ganz verstopft.«
»Alle wollen an den Strand«, sagte Jonah belehrend. »Da gibt es doch immer einen Stau.«
»Aber sonntagnachmittags um drei dürfte nicht mehr so viel Betrieb sein.«
Ronnie schlug die Beine unter. Sie hasste die ganze Situation. Sie hasste das Leben.
»Hey, Mom!«, rief Jonah. »Weiß Dad überhaupt, dass Ronnie verhaftet worden ist?«
»Ja, klar weiß er das«, antwortete sie.
»Und - will er irgendwas deswegen machen?«
Diesmal antwortete Ronnie: »Dad macht überhaupt nichts. Ihn interessiert doch nur das Klavier.«
Ronnie hasste das Klavier und hatte sich geschworen, nie wieder zu spielen. Sogar ihre ältesten Freundinnen fanden diesen Entschluss seltsam, weil das Klavier eigentlich von Anfang an zu Ronnies Leben gehört hatte. Ihr Dad war früher Dozent an der Juilliard School of Music gewesen und hatte auch Ronnie unterrichtet, und lange Zeit war es für sie das Schönste auf der Welt gewesen, nicht nur Klavier zu spielen, sondern auch gemeinsam mit ihrem Vater zu komponieren. Und sie war gut! Sehr gut sogar. Und da ihr Vater an der Juilliard School unterrichtete, hatten auch die Leitung und die anderen Professoren dort gemerkt, wie begabt Ronnie war. In den Kreisen ihres Vaters, in denen nur klassische Musik etwas zählte, hatte sich das schnell herumgesprochen. Das ging so weit, dass in verschiedenen Musikzeitschriften Artikel über Ronnie erschienen, dann brachte die New York Times ein längeres Feature über die musikalische Zusammenarbeit von Vater und Tochter, was schließlich dazu führte, dass Ronnie vor vier Jahren bei der renommierten Konzertreihe Young Performers in der Carnegie Hall auftreten durfte. Das war der Höhepunkt ihrer bisherigen Karriere gewesen, so viel stand fest. Und es war eine hohe Auszeichnung, das wusste Ronnie. Längst nicht jeder bekam so eine Chance. Aber in letzter Zeit fragte sie sich immer öfter, ob sich die Opfer, die sie dafür bringen musste, gelohnt hatten. Außer ihren Eltern erinnerte sich wahrscheinlich niemand mehr an ihren Auftritt. Keiner interessierte sich noch dafür. Ronnie hatte begriffen: Wenn man kein populäres Video bei YouTube einstellte oder vor Tausenden von Zuschauern eine spektakuläre Show abzog, hatten musikalische Fähigkeiten wenig zu bedeuten.
Manchmal wünschte sie sich, ihr Vater hätte ihr E-Gitarre beigebracht. Oder ihr wenigstens Gesangsunterricht gegeben. Was sollte sie mit dem Klavier anfangen? An irgendeiner Akademie Musik unterrichten? Oder in einer Hotellobby herumklimpern, während die Gäste ihre Anmeldungsformulare ausfüllten? Oder das schwierige Leben anstreben, das ihr Vater führte? Was hatte das Klavier ihm gebracht? Er hatte seine Stelle an der Juilliard School of Music gekündigt, um als Konzertpianist auf Tournee zu gehen. In der Folge spielte er in unbedeutenden Städten, und das Publikum füllte höchstens die ersten zwei Reihen. Vierzig Wochen im Jahr war er unterwegs gewesen - lang genug, um seine Ehe zu
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