Mit einem Bein im Knast: Mein Versuch, ein Jahr lang gesetzestreu zu leben (German Edition)
vorsichtshalber!«
Er grinst, als hätte ihm im Restaurant jemand nach einem Fünf-Gänge-Menü gesagt, dass das Haus die Rechnung übernimmt.
Ich muss meinen Ausweis vorzeigen, einer der Beamten schreibt meine Adresse und Telefonnummer auf. Ich muss erklären, was Beerpong ist und warum man so etwas am ersten Weihnachtsfeiertag spielt.
»Ein schönes Spiel ist das.«
Würde ich mit den Polizisten sprechen wie sie mit mir, hätte ich eine Anzeige wegen Beleidigung am Hals. Sie tun so, als wäre ich ein Kleinkind. Dann schicken sie mich fort.
Vielleicht drückt der Begriff »Beamtenbeleidigung« auch aus, wie sich viele Beamte gegenüber anderen Menschen benehmen.
Enttäuscht verlasse ich die Dienststelle der Polizei. Ich höre nie wieder etwas.
»Das war ein klassisches Beispiel dafür, wie man eine Anzeige abwimmelt«, sagt mein Begleiter. Er muss es wissen, denn er ist selbst Polizist. »Das hat die überhaupt nicht interessiert, die wollen ihre Ruhe haben, weil sie wissen, dass die Ermittlungen ohnehin nicht viel bringen.«
Die Menschen verfügen über ganz ausgezeichnete Augen, wenn es um Verbrechen geht. Wegsehen ist nicht das Problem unserer Gesellschaft. Zusehen und nicht eingreifen ist das Problem.
Als sich im Jahr 2012 die Berichte über brutale Schlägereien häufen, muss Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich ein Interview in der Welt geben. Er spricht von einem vermehrten Einsatz von Polizeistreifen (»Je mehr, desto besser«), er spricht von einer stärkeren Videoüberwachung (»mehr Kameras«), er spricht von einer besseren Zusammenarbeit von Justiz und Innenministerium (»Kommunikation verbessern«).
Er sagt nicht: Wir alle müssen darauf aufpassen, dass unseren Mitmenschen nichts passiert! Wir sind füreinander verantwortlich!
Ich kann die Frage, ob ich eingreifen würde, wenn ein kleines Mädchen in der U-Bahn angegriffen wird, immer noch nicht beantworten. Ich weiß nicht, ob ich mein Leben oder meine Gesundheit gefährden würde – oder ob ich in diesem Moment vor lauter Angst dastehen würde, als wäre ich in einem Eisblock gefangen.
Aber ich wünsche mir mittlerweile, dass ich den Mut haben würde, nicht wegzulaufen und nicht zuzusehen, sondern aktiv zu werden.
Ich will kein Beobachter sein. Ich möchte ein Eingreifer sein.
Und du? Was bist du?
Kapitel 36
Die Gesetze und wir
Es gibt zu viele Gesetze in Deutschland!
Dass dieser Satz in einem der letzten Kapitel auftauchen würde, das war schon vor Beginn des Projekts klar.
Natürlich gibt es zu viele Gesetze in Deutschland.
Doch dieser plumpe Satz wird den Erfahrungen der vergangenen zwölf Monate nicht gerecht. Wir leben tatsächlich in einer Mischung aus Paragrafendschungel und Schilderwald – und weil wir uns nicht auskennen, stehen wir quasi an jedem Tag mit einem Bein im Knast. Wir haben nur das Glück, dass uns kaum jemand kontrolliert.
Ich habe versucht, ein Jahr lang zu leben, ohne auch nur ein Mal das Gesetz zu überschreiten – und ich bin gescheitert. Ich bin unabsichtlich zu schnell gefahren, ich bin absichtlich bei roter Ampel über die Straße gegangen, ich bin schwarzgefahren, weil ich meinen Geldbeutel vergessen hatte. Das sind nur einige Vergehen aus dem Straßenverkehr, dazu kommen zahlreiche andere Verstöße: Ich hatte meinen Ausweis beim Grenzübertritt nach Tschechien vergessen, ich habe mir bei Freunden einen Film angesehen, den die aus dem Internet geladen hatten – doch erfuhr ich das erst danach. Ich habe auf dem Balkon gegrillt, obwohl sich Nachbarn beschwert haben.
Es ist unmöglich, sich ein Jahr lang an alle Gesetze zu halten.
Doch ich bin kein einziges Mal erwischt worden.
Wann wird denn schon kontrolliert? Wer von uns wurde im vergangenen Jahr ernsthaft überprüft? Viele von uns wurden mal auf der Straße angehalten und gefragt, ob sie Alkohol getrunken hätten. Bei einigen wurde die Steuererklärung geprüft, andere mussten sich vor Gericht verantworten, weil sie angezeigt worden waren.
Warum bleiben so viele Untaten ungesühnt? Ein befreundeter Polizist formuliert es so: »Polizisten sind hoffnungslos überlastet, aufgrund des Quotendrucks können sie es sich nicht leisten, andere Fälle zu bearbeiten. Und seien wir ehrlich: Manche Kollegen sind einfach nur faule Schweine, die ihre Zeit bis zur Pensionierung möglichst stressfrei absitzen wollen.« Ich habe in diesen zwölf Monaten zahlreiche Polizisten kennengelernt, die meisten von ihnen waren überaus kompetent, hilfsbereit und
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