Mit freundlichen Küssen: Roman (German Edition)
springen aus ihren Holzbänken hervor und strömen in wilder Panik gen Ausgang, während ich zum Glockenturm emporschaue, in dem es sich anhört, als würden die Glocken mit einem Presslufthammer bearbeitet. Entsetzt presse ich mir beide Hände auf die Ohren.
Ding-dong, brrrrrrrr. Ding-dong, brrrrrr. Ich sitze kerzengerade in meinem Bett und versuche verwirrt, mich zu orientieren. In diesem Moment fällt mein vibrierendes Blackberry mit leuchtendem Display vom Nachtschränkchen und landet mit einem hörbaren Scheppern auf dem Fußboden. Mit einem langen Hechtsprung werfe ich mich quer übers Bett, schnappe das zuckende Teil am Schlafittchen und drücke die Annahmetaste. Simon, denke ich hoffnungsfroh und sage:
»Hallo?«
»Um Gottes willen, Vivi, wo steckst du?«
»Im Bett«, antworte ich wahrheitsgemäß, während ich mich bemühe, die Stimme am anderen Ende der Leitung einzuordnen.
»Im Bett?«, wiederholt mein Gesprächspartner entsetzt.
»Ach, Benjamin, du bist das«, fällt es mir endlich auf. »Oh mein Gott, wie spät ist es?«
Spät. Genau genommen zu spät! Zu spät für meinen Flieger nach München. Ich stammele hektisch eine Entschuldigung in den Hörer und verspreche Benjamin, so schnell wie möglich zu kommen.
»Halte bitte bis dahin die Stellung, okay?«, flehe ich ihn an und klinge dabei anscheinend so verzweifelt, dass er in beruhigendem Tonfall sagt:
»Vivi, ist doch in Ordnung. Mach dir keine Gedanken, hier geht die Welt nicht unter ohne dich.« Und genau das kann ich mir eben überhaupt nicht vorstellen. »Hör zu«, fährt er fort, während ich hektisch einige Kostüme aus dem Kleiderschrank reiße und in meinen Koffer stopfe. Nicht mal gepackt habe ich gestern. »Ich regele das hier, und für Otto lasse ich mir irgendetwas einfallen. Bis später.« Ohne meine Antwort abzuwarten, legt er auf. Mein Herzschlag hat bei der Nennung unseres Hauptansprechpartners und Vorstandsmitglieds der Vereinsbank für einen Moment ausgesetzt und nimmt jetzt umso schneller seine Arbeit wieder auf. So ein verdammter Mist! An jedem zweiten Montag im Monat haben wir um zehn ein Meeting vereinbart, um ihn über den Fortgang des Projektes auf dem Laufenden zu halten. Und nun tauche ich einfach nicht auf. Wie konnte ich nur vergessen, meinen Wecker zu stellen? Eilig ziehe ich mir das Shirt über den Kopf. Ein bekannter Duft steigt mir dabei in die Nase. Simon, fährt es mir durch den Kopf, und entsetzt starre ich auf das zerwühlte, leere Bett. Jetzt fällt es mir wieder ein. Simon ist weg. Ich bin allein. Wie soll ich diesen Tag überstehen?
Gerade, als ich die Wohnung verlassen will, fällt mir siedend heiß Tristan ein. Er wird verhungern, wenn die ganze Woche niemand zu Hause ist. Ich widerstehe der Versuchung, ihn in einer Plastiktüte durch die Flughafenkontrolle zu schmuggeln, obwohl ich in München jede seelische Unterstützung brauchen könnte. Stattdessen werfe ich Simons Schlüssel bei Herrn Lorenz in den Briefkasten, zusammen mit dem flehentlichen Gesuch um seine nachbarschaftliche Hilfe.
»Bald bin ich wieder da, Tristan«, verspreche ich ihm und komme mir schon wieder vor wie eine Mutter, die ihr Kind vernachlässigt. Eine alleinerziehende Mutter, um es genau zu nehmen.
Irgendwie habe ich den Tag dann doch überstanden. Als ich mit schamesrotem Kopf nach der Mittagspause ins Büro geschlichen kam, hatte Benjamin alles unter Kontrolle. Auf dem sechzigminütigen Flug konnte ich mir auch eine einigermaßen glaubhafte Geschichte von einem eingeklemmten Nerv in meinem Rücken ausdenken, die er ohne zu zögern geschluckt hat. Am Abend habe ich mich dermaßen in diese Lüge hineingesteigert, dass ich, während ich müde und mit schmerzenden Füßen in mein Hotelzimmer wanke, selber daran glaube.
»Guten Abend, Frau Sonntag«, wünscht die Rezeptionistin Frau Meier mir mit einem strahlenden Lächeln.
»Guten Abend«, gebe ich stöhnend zurück, woraufhin sie mich mit einem besorgten Ausdruck in den blauen Augen mustert. »Geht es Ihnen nicht gut?«
»Rückenschmerzen«, antworte ich, so wie heute schon ungefähr hundertmal.
»Haben Sie was zum Einnehmen?«, erkundigt sie sich fürsorglich, »ich hätte sonst hier …« Schon beginnt sie in einer der zahlreichen Schubladen vor sich herumzukramen.
»Ach, lassen Sie nur«, winke ich schwach ab, aber da wedelt sie schon triumphierend mit einem silbernen Tablettenstreifen vor meiner Nase herum.
»Das ist nur gegen die Schmerzen«, versichert sie
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