Mit freundlichen Küssen: Roman (German Edition)
Reden. Vivi.« Angespannt warte ich darauf, dass das Telefon klingelt. Hoffentlich hat sie meine Nachricht gehört. Ich würde ja auch anrufen, aber beim letzten Mal sind meine beiden Nichten Anna und Klara aufgewacht und Gerüchten zufolge die ganze Nacht nicht wieder eingeschlafen. Chrissy hat mir daraufhin das Versprechen abgenommen, nie wieder nach acht Uhr abends bei ihr zu Hause anzurufen, außer im absoluten Notfall. Also kralle ich meine Finger in das raschelnde Bettlaken und warte auf ihren Rückruf. Ich warte und warte. Es wird Viertel vor zehn, zehn vor zehn. Um kurz vor zehn beschließe ich, dass es sich durchaus um einen Notfall handelt, und greife zum Telefon. Nach viermaligem Klingeln höre ich die Stimme meiner Schwester:
»Hallo?« Sie klingt abgehetzt.
»Hallo, ich bin es«, sage ich und höre in diesem Moment im Hintergrund ein Kind weinen.
»Oh nein«, stöhnt Chrissy, »Daniel, kannst du bitte gehen? Bevor Klara auch noch aufwacht. Du sollst doch nach acht nicht mehr anrufen«, blafft sie mich ziemlich ungehalten an, als das Geschrei zweistimmig wird.
»Es tut mir Leid«, entschuldige ich mich eingeschüchtert, »aber es ist ein Notfall. Ich habe auch eine SMS geschickt.«
»Hab ich nicht gelesen. Es hat ewig gedauert, bis die Kinder geschlafen haben.« Der Vorwurf in ihrer Stimme ist nicht zu überhören, und als das Weinen im Hintergrund lauter und schriller wird, ist es auch mit meiner Beherrschung vorbei.
»Simon ist ausgezogen«, wimmere ich. »Er hat mich verlassen.«
»Oh Gott, Vivi …«, ertönt es schockiert von der anderen Seite der Leitung. »Das tut mir Leid. Nein, ich kann sie jetzt nicht nehmen«, höre ich sie wispern, eine Tür klappt hörbar zu, und das Weinen von Klara und Anna ist ausgesperrt. »Erzähl, was ist passiert?« Ich stammele etwas von einem Haustürschlüssel und Adventskalendern und dass es gar kein Wunder ist, dass Simon nichts mehr mit mir zu tun haben will, weil ich die schlechteste Freundin auf der ganzen Welt bin. »Ehrlich gesagt verstehe ich kein Wort«, sagt Chrissy schließlich hilflos. »Bist du in München?«
»Ja.«
»Willst du nicht morgen Früh herkommen?« Meine Schwester lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Vorort von Stuttgart. So richtig idyllisch in einem Reihenhaus mit Garten und verkehrsberuhigter Zone.
»Ich muss doch arbeiten«, gebe ich kläglich zurück.
»Na und? Dann machst du halt mal frei«, schlägt sie vor, und es verschlägt mir für einen Augenblick glatt die Sprache.
»Das geht nicht«, sage ich bestimmt, als ich mich wieder gefangen habe. Gleichzeitig fühle ich mich noch einsamer als vorher. Sie hat eben keine Ahnung davon, was ich für ein Leben führe. Niemand hat das. Als könnte ich hier einfach blaumachen. Schlimm genug, dass ich heute Vormittag gefehlt habe. Ich wage zu bezweifeln, dass Chrissy meine Situation nachvollziehen kann, aber immerhin versucht sie nicht, mich umzustimmen, sondern beginnt laut zu überlegen:
»Na ja, ich könnte ja auch nach München rüberkommen. Könnte allerdings recht anstrengend werden, mit den Kleinen. Aber irgendwie schaffe ich es schon. Wir könnten zusammen Mittag essen.« Schnell überschlage ich in meinem Kopf das Pensum für den morgigen Tag. Mehr als dreißig bis höchstens fünfundvierzig Minuten werde ich nicht für die Pause freischaufeln können. Meine Schwester dafür der Tortur »Bahnfahren mit zwei Dreijährigen plus Kinderwagen« auszusetzen, bringe ich nicht über mich.
»Lass mal, das lohnt sich nicht«, wehre ich deshalb ab.
»Chrissy, könntest du bitte aufhören zu telefonieren und mir mit deinen Töchtern helfen?«, höre ich Daniel im Hintergrund fluchen.
»Du meinst wohl unsere Töchter«, pariert meine Schwester, »und nein, kann ich nicht, meine Schwester hat Probleme. Also«, spricht sie wieder in den Hörer. Ich bekomme jetzt ein schlechtes Gewissen. Will ja nicht, dass der Haussegen meinetwegen schiefhängt.
»Geh ruhig«, sage ich daher, und spüre den Kloß in meinem Hals anschwellen, »ich komme schon klar.«
»Wirklich?«, erkundigt sie sich besorgt. »Du klingst nicht gut.«
»Wird schon«, versuche ich sie und mich gleichermaßen zu überzeugen.
»Na schön«, kommt es zögernd vom anderen Ende der Leitung. Ich kann förmlich spüren, wie sie hin- und hergerissen ist zwischen ihrer Loyalität mir gegenüber und dem Bedürfnis, sich um die schreienden Zwillinge zu kümmern. »Dann Kopf hoch.« Oh nein, das klingt nach Abschied. Leg
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