Mit freundlichen Küssen: Roman (German Edition)
einfach hier so stehen lassen, in meiner Blöße? Es hätte so ein schöner Abend werden können! Warum ist er denn nicht einfach ins Schlafzimmer gekommen, um mich zu »verlassen«? Dann hätte er sehen können, dass ich mich bemühe. Dass er mir nicht egal ist. Nachdenklich starre ich auf die Stoffschildkröte, die noch immer, hilflos auf ihrem Panzer liegend und die Beine in die Höhe gestreckt, vom Esstisch zu mir hoch schielt. Ob Simon erwartet hat, dass ich ihn aufhalte? Vielleicht hätte ich das tun sollen. Und wieso habe ich nicht? Na gut, ich werde ihn anrufen. Jetzt sofort. Ich werde ihn bitten zurückzukommen. Ich werde von mir aus auch betteln. Wo habe ich mein Telefon? Vermutlich in meiner Handtasche im Flur. Gerade bin ich im Begriff, es zu holen, als mein Blick an einer Unstimmigkeit hängen bleibt. Irritiert sehe ich auf die breiten, weißen Regalborde, die Simon bei unserem Einzug über die gesamte Längsseite des Raumes verteilt hat. Die langen Reihen von DVDs weisen unverkennbare Lücken auf. Ich trete vor das Regal, lege meinen Kopf schief und lese die Rücken der DVD-Boxen. »Titanic«, »Pretty Woman«, »Dirty Dancing«, »Die Hochzeit meines besten Freundes«. Nein, das kann nicht sein. Immer schneller fliegen meine Augen von Filmtitel zu Filmtitel. »Vom Winde verweht«, »Fackeln im Sturm«, »Romeo&Julia«, »Die fabelhafte Welt der Amélie«. Es kann nicht sein. Wo sind »Das Fest« und »Dogville«, wo »Die Hard« und »Kill Bill«? Diese DVD-Sammlung sieht aus, als hätte nie ein Mann in dieser Wohnung gewohnt. »X-Man«, »Star-Wars« und »Spiderman« sind ebenso spurlos verschwunden wie die ersten beiden Staffeln von »Doktor House«, sonst eingequetscht zwischen »Sex and the City« und »Desperate Housewives – Staffel zwei«. Mich überkommt eine böse Vorahnung. Ganz langsam drehe ich mich um und sehe auf einen weißen Fleck an der gegenüberliegenden Wand. Strahlend, nahezu unnatürlich weiß leuchtet er mitten auf der vergilbten Fläche. Ungläubig betrachte ich das leere Rechteck. Von links unten nach rechts oben misst es exakt fünfundsechzig Zentimeter. Genau so viel wie der Flachbildfernseher, der bis vor Kurzem noch an dieser Stelle hing. Der DVD-Player hat mich ebenfalls verlassen, genauso wie die Hi-Fi-Anlage. Ganz langsam dämmert es mir, dass Simon seinen »Schreckschuss« anscheinend von langer Hand geplant haben muss. Schwankend laufe ich durch die Wohnung. Es fehlt nicht viel, aber Entscheidendes. Kein einziges Möbelstück hat Simon mitgenommen, obwohl wir das meiste zusammen gekauft haben. Nur der Technikkram ist fort, und all seine persönlichen Sachen. Seine Klamotten, auch die Sommersachen. Ja, du liebe Güte, wie lange will er denn wegbleiben? Im Badezimmerschrank wühle ich mich durch diverse Tages- und Nachtcremes, Haarlack, Bodylotion, Shampoos und Slipeinlagen. Kein »Nivea for man«, kein »Emporio-Armani«-After-Shave, nichts. Unter dem Spiegelschrank steht der Zahnputzbecher mit einer einzelnen gelben Zahnbürste darin. Wie konnte ich das nur übersehen? Einsam und allein hält sie die Stellung, ohne ihren blauen Freund, der ihr so viele Jahre treu zur Seite stand. Ich greife nach der Verlassenen, streiche sanft über ihre Borsten. Sie sind schon recht unansehnlich, zerzaust und platt gebürstet durch den Zahn der Zeit. Gewissenhaft hat sie ihren Job gemacht, und was hat sie jetzt davon? Ich gebe Ajona-Zahncreme auf den Bürstenkopf und nehme nur noch am Rande wahr, dass natürlich auch das Signal-Sportgel verschwunden ist. Mechanisch putze ich mir die Zähne und starre dabei in meine weit aufgerissenen Augen, unter denen die Wimperntusche in schwarzen Streifen in Richtung Mundwinkel läuft. Ich versuche mir das eben Geschehene wieder ins Gedächtnis zu rufen. Was hat Simon gesagt? Hat er noch irgendetwas zum Abschied gesagt? Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern. Nur noch an seine Worte: »Ich habe dich verlassen. Nur, falls es dir nicht aufgefallen sein sollte.«
Jetzt weiß ich natürlich auch, wie er das gemeint hat. Der weiße Fleck an der Wohnzimmerwand ist eigentlich ziemlich unübersehbar. Alles, was danach kam, ist wie in einen Nebel gehüllt. Ist er aufgestanden und gegangen? Ohne ein weiteres Wort? Und ich? Habe ich einfach dagestanden und geschwiegen? Oh mein Gott, ich kann mich nicht an die letzten Worte erinnern, die Simon zu mir gesprochen hat. Das geht nicht, beschließe ich. Verschleierte Erinnerungen sind etwas
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