Mit geschlossenen Augen
chaotischen Nachtverkehr Catanias stecken blieben, schaute er mich an, lächelte und sagte: »Loly, ich hab dich lieb.« Er nahm meine Hand, führte sie an seine Lippen und küsste sie. Loly, nicht Melissa. Er hat Loly lieb, Melissa interessiert ihn nicht.
4. April 2002
Tagebuch,
ich schreibe aus einem Hotelzimmer; ich bin auf Klassenfahrt in Spanien, in Barcelona. Es gefällt mir supergut hier, obwohl meine Lehrerin, dieser engstirnige Sauertopf, mich schief anguckt, wenn ich sage, dass ich keine Museen besichtigen möchte, weil ich das für Zeitverschwendung halte. Ich hasse es, einen Ort nur seiner Geschichte wegen zu besichtigen, ja, okay, die ist auch wichtig, aber was fange ich später damit an?
Barcelona ist so lebendig, so fröhlich, auch wenn es unterschwellig etwas melancholisch wirkt. Es kommt mir vor wie eine schöne, faszinierende Frau mit traurigen, tiefgründigen Augen, die einem bis auf den Grund der Seele blicken. Wenigstens ist das mein Eindruck. Ich würde gerne durch die nächtlichen Straßen ziehen, in denen es von Lokalen und Leuten aller Art wimmelt, aber leider zwingen sie mich, die Abende in Discos zu verbringen, wo ich mit sehr viel Glück vielleicht jemanden kennen lerne, der noch nicht total dicht ist. Tanzen liegt mir ja nicht, das finde ich doof. In meinem Zimmer geht es drunter und drüber: Die eine hüpft auf dem Bett herum, die andere schüttet Sangria in sich rein, die dritte kotzt auf dem Klo nebenan; jetzt gehe ich, Giorgio zieht mich am Ärmel weg ...
7. April
Vorletzter Tag, ich möchte nicht wieder heim. Mein Zuhause ist hier; in Barcelona fühle ich mich wohl, sicher und von den Leuten verstanden, obwohl wir gar nicht dieselbe Sprache sprechen. Es ist tröstlich, nicht das Telefon klingeln zu hören und befürchten zu müssen, dass Fabrizio oder Roberto dran sind, die ich in letzter Zeit immer abgewimmelt habe. Es ist tröstlich, bis spät in die Nacht mit Giorgio plaudern zu können, ohne hinterher mit ihm ins Bett steigen zu müssen. Wo bist du geblieben, Narzissa, die du dich so geliebt und immer gelächelt hast, die du so viel gegeben hast und ebenso viel bekommen wolltest? Wo bist du geblieben mit deinen Träumen, deinen Hoffnungen, deinem Wahn ‒ Lebenswahn und Todeswahn? Wo bist du geblieben, Spiegelbild, wo kann ich dich suchen, wo kann ich dich finden, wie kann ich dich an mich binden?
4. Mai 2002
Als ich heute aus der Schule trat, kam Letizia mir entgegen, das runde Gesicht von einer großen Sonnenbrille eingerahmt wie meine Mutter auf Fotos aus den Siebzigerjahren. Sie war in Begleitung zweier Mädchen, denen man auf den ersten Blick ansah, dass sie Lesben waren. Eine von ihnen heißt Wendy, sie ist genauso alt wie ich, obwohl man sie ihren Augen nach viel älter schätzen würde. Die andere, Floriana, ist etwas jünger als Letizia.
»Ich hatte Lust, dich zu sehen«, meinte Letizia und sah mir dabei tief in die Augen.
»Finde ich klasse, dass du gekommen bist. Ich hatte auch Lust, dich zu sehen«, gab ich zurück.
In der Zwischenzeit strömten auch die anderen Schüler aus der Schule, die Bänke auf dem Vorplatz füllten sich. Die Jungs beäugten uns neugierig und gaben grinsend irgendwelche Kommentare ab; die verklemmten Tussis unter den Mädchen dagegen rümpften die Nase und verdrehten theatralisch die Augen. Ich kann mir ihre giftigen, dummen Bemerkungen gut vorstellen: »Mensch, hast du gesehen, mit wem die sich trifft? Ich hab ja immer gesagt, dass sie komisch ist ...« Und dabei werfen sie womöglich die Zöpfe zurück, die Mama ihnen am Morgen noch rasch geflochten hat.
Letizia schien gemerkt zu haben, wie unwohl mir war, deshalb sagte sie: »Wir gehen zum Mittagessen in den Verein. Kommst du mit?«
»In was für einen Verein?«, fragte ich.
»Lesben und Schwule. Ich hab die Schlüssel, wir sind allein.«
Ich war einverstanden, holte mein Mofa, und Letizia klemmte sich hinter mich; ich konnte ihren Busen auf dem Rücken spüren und ihren Atem am Hals. Unterwegs lachten wir viel, ich fuhr Schlangenlinien, weil ich es nicht gewöhnt bin, jemanden hinten drauf zu haben, und Letizia streckte den alten Omas die Zunge raus, während sie mit beiden Armen meine Taille umschlang.
Als Letizia die Tür aufmachte, betrat ich eine für mich völlig neue Welt. Eigentlich war es eine ganz normale Wohnung, nur dass sie eben nicht einem Einzelnen, sondern der Gemeinschaft der Gays von Catania gehörte. Es war alles da, was so in eine Wohnung gehört, und noch mehr; auf
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