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Mit geschlossenen Augen

Mit geschlossenen Augen

Titel: Mit geschlossenen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Panarello
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dich nicht um; oben angekommen wirst du finden, was du im Wald vergeblich gesucht hast.«
»Wie kann ich dir danken?«, fragte ich ihn unter Tränen.
    »Lauf los, bevor ich mich wieder denen dort anschließe!«, brüllte er und schüttelte den Kopf.
»Aber du bist doch mein Retter! Ich brauche nicht den Turm hochzuklettern, ich habe dich ja schon gefunden!«, schrie ich voller Freude.
»Lauf los!«, wiederholte er noch einmal. Und dann verwandelten sich seine Augen, wurden hungrig und rot, Schaum trat vor seinen Mund, und er rannte weg. Ich blieb mit gebrochenem Herzen am Fuß des Turmes zurück.
22. März 2002
    Meine Familie war für eine Woche verreist und kommt morgen zurück. Ich hatte also eine Woche lang sturmfreie Bude und konnte kommen und gehen, wann ich wollte; im ersten Moment habe ich überlegt, ob ich jemanden zum Übernachten einladen soll, zum Beispiel Daniele, der sich vor zwei Tagen mal wieder gemeldet hat, oder Roberto, vielleicht sogar Germano oder Letizia, eben irgend jemanden, der mir Gesellschaft leistet. Stattdessen habe ich mein Alleinsein genossen; ich bin einfach zu Hause geblieben und hab mir all die schönen und all die hässlichen Dinge durch den Kopf gehen lassen, die mir in letzter Zeit widerfahren sind.
    Ich weiß, dass ich mir selbst wehgetan habe, Tagebuch, dass ich keinen Respekt vor mir hatte, vor diesem Menschen, den ich doch angeblich so liebe ‒ obwohl ich mir da inzwischen gar nicht mehr so sicher bin. Eine, die sich liebt, lässt ihren Körper nicht von irgendeinem dahergelaufenen Typen vergewaltigen, einfach so, ohne triftigen Grund und auch nicht aus purem Vergnügen. Ich sage das, weil ich dir ein Geheimnis verraten möchte, eine traurige Geschichte, die ich dir zuerst verschweigen wollte, in der dämlichen Annahme, sie auf diese Weise vergessen zu können.
    An einem der Abende, die ich alleine zu Hause verbrachte, dachte ich, es täte mir vielleicht gut, eine Runde an der frischen Luft zu drehen und ein wenig unter Leute zu kommen; also bin ich in meine Stammkneipe gegangen, habe ein Bier nach dem andern runtergeschüttet und dabei einen Typen kennen gelernt, der mich auf ziemlich plumpe Art angebaggert hat. Ich war betrunken, konnte kaum noch geradeaus sehen und ließ ihn deshalb machen. Irgendwann schleppte er mich in seine Wohnung, aber als die Tür hinter mir zuging, bekam ich plötzlich Angst, ganz schreckliche Angst; mein Rausch war schlagartig verflogen. Ich bat ihn, mich gehen zu lassen, aber er weigerte sich, sah mich mit winzigen, irren Augen an und befahl mir, mich auszuziehen. Ich war so verängstigt, dass ich es tat, und auch alles, wozu er mich sonst noch zwang. Irgendwann drückte er mir einen Vibrator in die Hand, mit dem sollte ich in mich eindringen; meine Scheidenwände brannten, als würde sich meine Haut in Fetzen auflösen. Als er mir seinen kurzen, schlaffen Pimmel hinhielt, habe ich geweint, da er mir aber mit der andern Hand den Kopf nach unten presste, musste ich tun, was er von mir verlangte. Er empfand überhaupt nichts, mir taten die Kiefer weh und auch die Zähne.
    Später warf er sich aufs Bett und schlief ein wie ein Sack. Ich habe instinktiv zum Nachttisch rübergeschielt und die Kohle gesucht, die einer anständigen Nutte gebührt hätte. Im Bad habe ich mir das Gesicht gewaschen, ohne auch nur eine miese Sekunde darauf zu verschwenden, mich im Spiegel zu betrachten: Ich hätte doch noch nur das Monster gesehen, zu dem mich alle machen wollen. Und das kann ich mir nicht erlauben, das kann ich ihnen nicht erlauben. Ich bin schmutzig, nur die LIEBE , so es sie denn gibt, wird mich noch läutern können.
28. März
    Gestern habe ich Valerio erzählt, was mir neulich passiert ist. Ich hätte erwartet, dass er sofort zu mir kommt und mich in den Arm nimmt und wiegt und mir ins Ohr flüstert, ich solle mir keine Sorgen machen, jetzt wäre ja er bei mir. Aber nichts dergleichen: Er schimpfte mich aus, nannte mich total bescheuert, eine dumme Kuh, und er hat Recht, verdammt noch mal! Aber es reicht, dass ich mir selbst Vorwürfe mache, da brauche ich mir nicht auch noch Predigten von andern anzuhören; das Einzige, was ich brauche, ist jemand, der mich umarmt und tröstet. Heute Vormittag hat er mich von der Schule abgeholt, war das eine Überraschung! Er kam mit dem Motorrad, ohne Helm, aber mit einer Sonnenbrille, die seine schönen Augen verdeckte. Ich stand gerade vor einer Bank, auf der ein paar Klassenkameraden saßen, und plauderte, den

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