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Mit geschlossenen Augen

Mit geschlossenen Augen

Titel: Mit geschlossenen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Panarello
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das Sofa gelegt, und ich habe, glaube ich, eine Weile geschlafen. Als die Sonne längst untergegangen und der Himmel dunkel geworden war, begleitete sie mich zur Tür. »Letizia«, sagte ich zu ihr, »es ist besser, wenn wir uns nicht mehr sehen.«
Sie nickte, lächelte schwach und sagte: »Ja, das glaube ich auch.«
Dann haben wir uns ein letztes Mal geküsst. Während ich mit dem Mofa nach Hause zurückfuhr, habe ich mich einmal mehr benützt gefühlt, benützt von einem Menschen und von meinen eigenen schlechten Instinkten.
18. Mai 2002
    Gestern lag ich mit Grippe im Bett. Es kommt mir vor, als könnte ich jetzt noch die warme, tröstende Stimme meiner Mutter hören, die mir folgende Geschichte erzählt:
    »Auch etwas sehr Problematisches und Unerwünschtes kann sich manchmal als große Gabe entpuppen; weißt du, Melissa, wir bekommen oft Geschenke, ohne es zu merken. Dieses Märchen erzählt von einem jungen Herrscher, der eines Tages das Reich seines Vaters übernimmt. Da er bei seinen Untertanen auch vor der Krönung schon sehr beliebt gewesen war, bekam er als junger König viele, viele Geschenke. Als er nach dem großen Fest in seinem Palast zu Abend aß, hörte man es plötzlich ans Schlosstor klopfen. Die Diener sahen nach und fanden einen lumpig gekleideten Bettler vor der Tür, der unbedingt den König sprechen wollte. Sie unternahmen alles, um ihn abzuwimmeln, doch vergeblich. Schließlich erklärte der König sich bereit, ihn zu empfangen. Der Alte überschüttete ihn mit Lob, bewunderte seine Schönheit und sagte ihm, dass alle in seinem Volk glücklich seien, ihn zum König zu haben. Dann schenkte er ihm eine Melone; der König hasste Melonen, aber dem Alten zuliebe nahm er die Gabe dankend an. Als der Mann weg war, übergab der König die Melone einem Diener, damit er sie in den Garten hinter dem Schloss werfe.
    Eine Woche später zur selben Uhrzeit klopfte es erneut ans Tor. Der König wurde gerufen, und wieder war es der Bettler, der ihn rühmen und ihm ein Geschenk bringen wollte. Der König nahm es an, verabschiedete den Alten und warf die Melone wie beim letzten Mal in den Garten. Die Szene wiederholte sich über mehrere Wochen hinweg: Der König brachte es einfach nicht übers Herz, den Alten wegzuschicken oder seine Geschenke abzuweisen.
    Eines Abends, als der Alte gerade dabei war, seine Melone zu überreichen, sprang von einer der vielen Palastgalerien ein Affe herab und riss ihm die Frucht aus der Hand. Die Melone fiel auf den Boden und platzte, und der König sah, wie sich eine wahre Flut von Diamanten daraus ergoss. Aufgeregt rannte er in den Garten hinterm Schloss: Alle Melonen lagen aufgebrochen um einen Hügel aus Diamanten herum.«
    An dieser Stelle fiel ich meiner Mutter ins Wort. »Warte! Darf ich raten, wie die Moral der Geschichte lautet?«, fragte ich sie begeistert.
»Sicher«, meinte sie lächelnd.
Ich holte tief Luft, genau wie in der Schule, bevor ich eine auswendig gelernte Lektion aufsage: »Unbequeme Situationen, Probleme oder Schwierigkeiten bergen ungeahnte Möglichkeiten des Wachstums, und oft blitzt inmitten der Bedrängnis plötzlich ein kostbarer Edelstein auf. Deshalb ist es klug anzunehmen, was uns unbequem und schwierig erscheint.«
Meine Mutter lächelte erneut, streichelte meine Haare und sagte: »Du bist groß geworden, meine Kleine. Du bist eine Prinzessin.«
Mir kamen die Tränen, aber ich unterdrückte sie; meine Mutter weiß ja nicht, dass die Diamanten des Königs für mich bis jetzt nur die nackten Grausamkeiten rücksichtsloser Männer waren, die unfähig sind zu lieben.
20. Mai
    Heute hat mich der Prof. wieder vor der Schule besucht. Ich hatte ihn schon erwartet und habe ihm einen Brief übergeben, dem ein ganz besonderer Slip beilag.
    Dieser Slip bin ich. Er ist das, was mich am besten beschreibt. Wem könnte so ein komisches Ding mit zwei herabhängenden Bändchen an den Seiten auch gehören, außer einer kleinen Lolita? Aber er gehört mir nicht nur, dieser Slip bin ich und mein Körper.
    Ich habe ihn oft angehabt, wenn ich mit jemandem schlief, vielleicht nicht mit dir, aber das ist egal ... Die Bändchen an den Seiten behindern meine Instinkte und Sinne, es sind Ketten, die nicht nur einen Abdruck auf meiner Haut hinterlassen, sondern auch meine Gefühle blockieren ... Stell dir meinen halb nackten Körper vor, der lediglich mit diesem Slip bekleidet ist: Durch das Lösen eines der beiden Knoten wird nur ein Teil meiner selbst freigesetzt, die

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