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Mit geschlossenen Augen

Mit geschlossenen Augen

Titel: Mit geschlossenen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Panarello
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aber bestimmt gedrückt.
»Claudio«, sagte er und blickte mir unverwandt in die Augen.
»Melissa«, brachte ich irgendwie heraus.
»Was war das, was du da gerade gesagt hast?«
»Was ...? Ach ja, das! Ein Lied aus einem Märchen; ich kenne es auswendig, seit ich sieben Jahre alt war.«
Er nickte zum Zeichen, dass er verstanden habe. Dann trat wieder Stille zwischen uns ein, panische Stille. Eine Stille, die von meinem netten, aber etwas tolpatschigen Freund Giorgio unterbrochen wurde: »He, Meli«, rief er mir von der Tür aus zu, »wir haben einen Tisch gefunden, jetzt komm schon, wir warten auf dich.«
»Ich muss gehen«, flüsterte ich.
»Darf ich an dein Tor klopfen?«, fragte er leise zurück.
Ganz schön dreist, dachte ich und sah ihn verwundert an, aber es war keine Dreistigkeit, sondern einfach der Wunsch, mich wieder zu sehen.
Ich nickte mit feuchten Augen: »Hier in der Gegend bin ich oft, ich wohne genau über diesem Lokal«, sagte ich und deutete nach oben zu unserem Balkon.
»Dann werde ich dir demnächst ein Ständchen bringen«, meinte er und zwinkerte mir schalkhaft zu.
Wir verabschiedeten uns, ich ging raus und zwang mich, nicht noch mal zurückzuschauen, denn ich hatte Angst, alles zu verderben.
»Wer war das?«, wollte Giorgio draußen wissen.
»Ein Herre ohn' Geschick«, erwiderte ich lächelnd.
»Hääää?«, fragte er.
Ich lächelte wieder, kniff ihm in die Wange und sagte: »Keine Sorge, du wirst es bald rauskriegen.«
4. Juni 2002 18 Uhr 20
    Kein Witz, Tagebuch! Er hat mir tatsächlich ein Ständchen gebracht! Die Leute gingen vorbei und guckten, und ich stand oben auf dem Balkon und bog mich vor Lachen, während ein pummeliger Mann mit Apfelbäckchen auf einer leicht lädierten Gitarre spielte, und er sang ‒ falsch wie noch was, aber einfach göttlich. Göttlich wie sein Lied, das mir Augen und Herz erfüllt hat; es ist die Geschichte eines Mannes, der nicht einschlafen kann, weil er immer an die Geliebte denken muss, die Melodie ist zart und ergreifend. Es geht mehr oder weniger so:
    Seufzend werf ich mich im Bett her und hin Dein Liebreiz will mir nicht aus dem Sinn. Nächtelang bring ich kein Auge zu Und schuld daran bist einzig du.
Nicht eine Stunde schlaf ich je
Friedlos ist dies Herz und leidet
Und willst du wissen, wann ich geh? Erst wenn der Tod uns scheidet.
    Ich habe es wahnsinnig genossen, auf diese dezente, altmodische Weise hofiert zu werden ‒ eine wundervolle Geste, banal, wenn man so will, aber unglaublich wirkungsvoll.
    »Und was muss ich jetzt machen?«, rief ich lächelnd vom Balkon hinunter, als er fertig war. »Reingehen und eine Kerze anzünden, wenn ich dein Werben annehme, und wenn nicht, das Licht löschen, stimmt's?«
    Er antwortete nicht, aber ich wusste genau, was ich zu tun hatte. Im Korridor bin ich meinem Vater begegnet (fast hätte ich ihn über den Haufen gerannt!), der neugierig fragte, wer denn da unten gesungen hätte. Ich lachte laut auf und sagte, das wüsste ich auch nicht.
    Dann sauste ich, so wie ich war, in kurzer Hose und T-Shirt, die Treppen runter, riss die Haustür auf und ... blieb wie angewurzelt stehen. Was sollte ich tun? Zu ihm rennen und ihm um den Hals fallen oder glücklich lächeln und mich mit einem Handschlag bedanken? Reglos blieb ich in der Tür stehen, und er begriff, dass ich ohne ein Zeichen von ihm niemals auf ihn zugehen würde, also hat er es getan.
    »Du siehst aus wie ein verängstigtes Kaninchen ... Entschuldige, wenn ich aufdringlich war, aber ich konnte einfach nicht anders.«
Er umarmte mich sacht, aber ich ließ die Arme hängen, unfähig, seine Geste zu erwidern.
»Melissa ... Darf ich dich heute Abend zum Essen einladen?«
Ich lächelte ihn nickend an, dann küsste ich ihn sanft auf die Wange und ging wieder hoch.
»Wer war das?«, fragte meine Mutter und verging fast vor Neugier.
Ich zuckte mit den Schultern. »Niemand, Mama, niemand ...«
0 Uhr 45
    Wir haben über uns gesprochen, und wir haben uns mehr gesagt, als ich mir je zu sagen und zu hören vorgestellt hätte. Er ist zwanzig, studiert Philologie und hat einen unglaublich lebendigen und intelligenten Gesichtsausdruck, der ihn sehr anziehend macht. Ich habe ihm aufmerksam zugehört, ich mag es, ihn anzuschauen, wenn er redet, es kribbelt mich dabei im Hals und im Magen. Ich fühle mich auf mich selbst zurückgeworfen, gebeugt wie der Stiel einer Blume, aber nicht geknickt. Claudio ist ein gutmütiger, friedlicher Mensch, der Sicherheit ausstrahlt. Er sagte

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