Mit geschlossenen Augen
erleben schien mir unmöglich. Nicht, dass ich zynisch gewesen wäre, das war ich nie, aber es gab einfach nie jemanden, der mir geholfen hätte, die in mir verborgene Liebe zutage zu fördern. Sie steckte irgendwo tief in mir drin und wartete darauf, ausgegraben zu werden ... Und ich habe sie ausgerechnet dort gesucht, wo sie am wenigsten zu finden war, habe mein Sehnen auf eine Welt gerichtet, aus der die Liebe buchstäblich verbannt ist. Und keiner, wirklich keiner, hat sich mir in den Weg gestellt und gesagt: »Stopp, Kleine, keinen Schritt weiter.«
Mein Herz war in einer Zelle aus Eis gefangen; sie mit einem gezielten Schlag zu zertrümmern wäre gefährlich gewesen, denn das Herz hätte dadurch für immer Schaden nehmen können. Dann aber kam die Sonne, nicht unsere brennende sizilianische Sonne, die Feuer spuckt und Brän- de stiftet, nein, eine sanfte, unaufdringliche, großherzige Sonne, die das
Eis langsam wegschmolz und so verhindert hat, dass meine ausgetrocknete Seele auf einen Schlag überschwemmt wurde.
Zu Beginn fühlte ich mich verpflichtet, ihn zu fragen, wann wir miteinander schlafen würden, aber als ich die Frage dann aussprechen wollte, biss ich mir auf die Lippen. Er begriff sofort, dass etwas nicht stimmte, und fragte: »Was ist los, Melissa?« Er nennt mich immer bei meinem Namen, für ihn bin ich Melissa, der Mensch, seine Essenz, nicht nur ein Körper und ein Objekt.
Ich habe den Kopf geschüttelt: »Nichts, Claudio, wirklich.« Da nahm er eine meiner Hände und legte sie auf seine Brust. Ich holte tief Luft und stammelte: »Ich ... habe mich gefragt, wann ... wann du wohl das erste Mal mit mir schlafen möchtest ...« Er schwieg, und ich fühlte, wie mir die Schamesröte ins Gesicht stieg.
»Nein, Melissa, nein, Liebling ... nicht ich werde entscheiden, ob und wann wir miteinander schlafen, das werden wir gemeinsam entscheiden, du und ich«, sagte er lächelnd.
Ich sah ihn total verdattert an, und mein ratloser Blick sagte ihm wohl, dass ich weitere Erklärungen brauchte.
»Schau mal ... wenn zwei Menschen sich miteinander vereinen, ist das der Gipfel der Spiritualität, und den kann man nur erreichen, wenn man sich liebt. Es ist, als würden ihre Körper von einem Strudel erfasst, und dann bleibt keiner mehr er selbst, dann ist einer im andern drin, und zwar im intimsten, innerlichsten und schönsten Sinne.«
Noch verwunderter als vorher fragte ich ihn, was das bedeute.
»Ich hab dich wahnsinnig gern, Melissa«, antwortete er.
Warum kennt dieser Mann so gut, was mir bis vor wenigen Tagen unauffindbar schien? Warum habe ich bisher nur Fiesheit, Schmutz und Brutalität vom Leben bekommen? Kann dieses wundervolle Wesen die Hand nach mir ausstrecken und mich aus dem stinkenden, engen Loch herausziehen, in das ich mich wie ein verängstigtes Tier verkrochen habe? Mond, meinst du, das ist möglich?
Die Verkrustungen des Herzens sind sehr hartnäckig und schwer wegzukriegen. Aber vielleicht kann mein Herz so heftig schlagen, dass der Panzer darum herum in tausend Stücke zerspringt.
30. Juni
Mir ist, als hätte ich unsichtbare Schnüre um Fuß- und Handgelenke. Ich hänge in der Luft, unten zieht jemand mit mörderischem Gebrüll, und oben zieht auch jemand. Ich bäume mich auf und weine, manchmal fühle ich mich den Wolken nahe, manchmal den Würmern. Ich wiederhole immer wieder meinen Namen: Melissa, Melissa, Melissa ... wie ein Zauberwort, das mich retten kann. Ich halte mich an mir selbst fest, umklammere mich selbst.
Ich habe mein Zimmer neu angestrichen. Es ist jetzt himmelblau, und über meinem Schreibtisch hängt nicht mehr Marlene Dietrich mit ihrem schmachtenden Blick, sondern ein Foto von mir selbst, wie ich mit wehenden Haaren die kalkweißen Boote im Hafen betrachte; hinter mir steht Claudio und umfängt mich sanft; seine Hände liegen auf meinem weißen T-Shirt, das Gesicht ist geneigt, weil er meine Schulter küsst. Er scheint die Boote nicht zu beachten, sondern völlig in der Betrachtung unserer selbst aufzugehen.
Als das Foto gemacht war, flüsterte er mir ins Ohr: »Melissa, ich liebe dich.«
Da habe ich eine Wange an seine geschmiegt und tief eingeatmet, um diesen Augenblick voll auszukosten; dann habe ich mich umgedreht, sein Gesicht in die Hände genommen und es mit einer Zärtlichkeit geküsst, die mir selbst bis dahin unbekannt war. »Ich liebe dich auch, Claudio ...«, flüsterte ich ihm ins Ohr.
Ein fiebriger Hitzeschauer überrollte mich, bis ich mich in seine
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