Mit Haut und Haar: 6. Fall mit Tempe Brennan
erlebte eben die ersten Augenblicke eines Lebens ohne den Menschen, dessen Leiche sie gerade gesehen hatte.
Ich suchte kurz Blickkontakt zu Hawkins und bedeutete ihm, er solle weitermachen.
Auf der Tafel standen drei Fälle, die seit gestern eingetroffen waren. Ereignisreicher Sonntag für Charlotte. Der Pilot und der Passagier hatten als MCME 438-02 und 439-02 eingecheckt.
Larabee hatte den Piloten bereits auf dem Autopsietisch im großen Saal. Als ich durch die Tür spähte, untersuchte er gerade die verbrannte Haut durch ein Vergrößerungsglas.
»Weiß man schon, wer das ist?«, fragte ich.
»Bis jetzt nicht.«
»Fingerabdrücke oder Zahnstatus?«
»Seine Finger sind zu stark verbrannt. Aber die meisten Zähne sind intakt. Sieht aus, als wäre er irgendwann in diesem Jahrtausend oder dem letzten bei einem Zahnarzt gewesen. Bei seinem Tattoo-Künstler war er auf jeden Fall. Sehen Sie sich die Meisterwerke an.«
Larabee gab mir die Lupe.
Anscheinend hatte der Kontakt mit dem Sitz den Hintern des Mannes vor den Flammen geschützt. Das untere Ende einer geflügelten und klauenbewehrten Schlange wand sich darüber. Rote Flammen züngelten durch die Windungen und an den Rändern.
»Kennen Sie das Design?«
»Nein. Aber irgendjemand sollte es.«
»Der Kerl scheint mir weiß zu sein.«
Mit einem Schwamm legte Larabee mehr von dem Tattoo frei. Der Rest der Schlange tauchte aus dem Ruß auf wie die Symbole auf einem Rubbellos von Burger King. Die Haut zwischen den Schuppen war teigig weiß.
»Ja«, erwiderte er, »aber schauen Sie sich das mal an.«
Larabee schob eine Hand unter die Schulter des Piloten und hob die Leiche an. Ich bückte mich.
Schwarze Klümpchen klebten an der Brust des Mannes wie winzige, verkohlte Blutegel.
»Das ist dasselbe Zeug, mit dem der Passagier überzogen ist«, sagte ich.
Larabee ließ die Schulter des Piloten wieder auf den Tisch sinken.
»Ja.«
»Irgendeine Ahnung, was das sein könnte?«
»Keinen Schimmer.«
Ich sagte Larabee, dass ich im zweiten Raum arbeiten würde.
»Joe hat die Röntgenbilder schon an den Lichtkasten gehängt«, sagte er.
Ich legte eine Fallakte an, zog mich um, besorgte mir einen kleinen Karren und ging zum Kühlraum. Als ich am Griff der Edelstahltür zog, wehte mir der Gestank von verkohltem und gekühltem Fleisch in die Nase.
Die Bahren standen in zwei ordentlichen Reihen. Sieben leer. Vier belegt.
Ich kontrollierte die Etiketten an den Reißverschlüssen der Leichensäcke.
MCME 437-02. Ursus und Begleitung.
MCME 415-02. Unbekannter männlicher Schwarzer. Wir nannten ihn Billy, weil die Leiche neben dem Billy Graham Parkway gefunden worden war. Billy war ein zahnloser alter Mann, der allein und von niemandem betrauert unter einer Decke aus Zeitungen gestorben war. Seit drei Wochen hatte sich niemand gemeldet, der ihn vermisste. Larabee gab Billy noch bis zum Ende des Monats.
MCME 440-02. Earl Darnell Boggs. Geboren am 14.12.1948. Ich nahm an, der unglückliche Mr. Boggs gehörte zu der Dame in Joe Hawkins’ Verschlag.
MCME 439-02. Unbekannt. Der Passagier.
Ich zog den Reißverschluss des Sacks auf.
Die Leiche war so, wie ich sie in Erinnerung hatte, kopflos, verkohlt, die Arme zur Boxerhaltung verkrampft. Die Hände waren zu Klauen verschrumpelt. Wieder keine Fingerabdrücke in Aussicht.
Hawkins hatte meine Plastikbehälter direkt über den Schultern des Passagiers arrangiert, als wollte er den zerschmetterten Kopf rekonstruieren. Ich nahm die Behälter heraus und legte sie auf den Karren, zog den Reißverschluss wieder zu und schob den Karren in den kleineren Autopsieraum.
Die Röntgenaufnahmen leuchteten schwarz und weiß, wie die Testbilder in der Frühzeit des Fernsehens. Die zweite Aufnahme zeigte zwei metallische Objekte inmitten der Zähne und Unterkieferfragmente. Das eine sah aus wie eine Wappenlilie, das andere wie Oklahoma.
Gut. Der Passagier war also ebenfalls bei einem Zahnarzt gewesen.
Ich zog Handschuhe an, breitete ein Tuch über den Tisch und leerte den zweiten Behälter darauf. Ich brauchte ein paar Minuten, bis ich die zwei losen Zahnfüllungen gefunden und herausgenommen hatte. Nachdem ich sie in ein Röhrchen gesteckt hatte, suchte ich alle Zahn- und Unterkieferfragmente heraus, legte sie in eine Schale und stellte sie beiseite.
Dann wandte ich mich dem Schädel zu.
Eine Rekonstruktion war bei diesem Kerl sinnlos. Die Schäden durch das Feuer waren zu groß.
Ich entfernte verkohltes Fleisch und schuppiges
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