Mit Konfuzius zur Weltmacht
neu. Viele der traditionellen Bräuche sind verlernt und müssen erst wieder geübt werden, denn bis vor wenigen Jahrzehnten pflegte China noch ganz andere Riten. Damals gab es nur einen Philosophen, der in roter Personalunion Kaiser und Gott war: der Kommunist Mao Zedong. Konfuzius’ Schriften ließ er verbieten und auch fast alle anderen Bücher. Dafür veröffentlichte er eines, das alle immer bei sich führten: die kleine rote Mao-Bibel. Hunderttausende Jugendliche schwenkten sie ekstatisch auf dem Platz des Himmlischen Friedens und versuchten, einen Blick des »Großen Vorsitzenden« zu erhaschen, der ihnen vom Tor des Himmlischen Friedens aus zuwinkte. Dazu erklang das Lied »Der Osten ist rot«:
»Der Osten ist rot, die Sonne geht auf,
China hat Mao Zedong hervorgebracht.
Er plant Glück für das Volk,
Hurra, er ist der große Erlöser des Volkes!
Der Vorsitzende Mao liebt das Volk.
er führt uns,
um das neue China aufzubauen,
Hurra, er führt uns nach vorn!
Die Kommunistische Partei ist wie die Sonne,
Und scheint genauso hell.
Wo es eine Kommunistische Partei gibt,
Hurra, da ist die Befreiung des Volkes!«
Alle trugen blaue und braune Arbeitskittel, weshalb damals im Westen das Bild von den »blauen Ameisen« entstand. Eine Generation später gehen Chinesinnen und Chinesen in modischen Kostümen und dunklen Anzügen ins Büro, tragen in ihrer Freizeit bunt bedruckte T-Shirts und Miniröcke – noch nie hat sich ein Land so schnell verändert. Das kann nicht ohne geistige Folgen bleiben.
Sinologe Tilman Spengler, Jahrgang 1947, beobachtet das damit verbundene Comeback des Konfuzius. Den Geburtsort des Meisters, Qufu, besuchte er schon 1987, als nur wenige Autos dorthin fuhren – und das, in dem Spengler saß, brach dann auch noch 30 Kilometer vor dem Ziel zusammen. Spenglers letzte Hoffnung blieb damals eine Fahrradrikscha. Doch deren Fahrer blickte den Deutschen lange an, spuckte auf den Boden und meinte: »Qufu ist zu weit, und Sie sind zu fett.« Nach halbstündiger Verhandlung einigten sie sich: Der Fahrer radelt die erste Hälfte der Strecke, der Sinologe die zweite. »So kamen die Bewohner des Geburtsorts von Konfuzius in den Genuss eines seltenen Spektakels«, erinnert sich Spengler. »Ein übergewichtiger Ausländer mit hochrotem Kopf radelt auf einer Rikscha deren dürren Besitzer durch die Straßen des kleinen Ortes. Der Besitzer winkt freundlich den staunenden Passanten zu.«
Deutlich weniger Lustiges ereignete sich 2011. Es war ausgerechnet eine Ausstellung über die Kunst der Aufklärung, die von deutschen Museen in Peking gestaltet und von Außenminister Guido Westerwelle eröffnet wurde. Tilman Spengler gehörte zu dessen offizieller Delegation, doch wurde ihm die Einreise verweigert, da er ein Jahr zuvor eine Laudatio auf den chinesischen Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo gehalten hatte.
Spengler wohnt in Berlin, wenn er sich nicht am Starnberger See aufhält und gerade nicht nach China darf. An den Wänden hängen chinesische Tuschzeichnungen und Kalligrafien. »Die Gründe für die fast triumphale Rückkehr des Konfuzianismus liegen erst einmal darin, dass eine Kultur irgendeine Identität braucht«, meint der Sinologe. »Das ganz Merkwürdige für die chinesische Kultur ist, dass sie in den letzten 60 Jahren radikal immer wieder von anderen Seiten ausradiert worden ist. Es hat eine sozialistische Kampagne gegeben, dann hat es eine kapitalistische Kampagne gegeben und viele Bewegungen mehr. Da blieb nicht nur kein Stein, da blieb keine Seele aufeinander. Irgendetwas Ordnungsstiftendes musste her.«
Ein Samstagmorgen im Konfuzius-Tempel von Peking, 1302 erbaut. Der Meister ist in Stein gehauen, auf Tafeln stehen einige seiner wichtigsten Sätze. Eine Konfuzius-Schule eröffnet ihr neues Unterrichtsjahr. Die meisten der 60 Schüler sind im Kindergartenalter. Die Jungen tragen blaue, die Mädchen rosarote Trachten aus der Han-Dynastie, die China von 206 vor Christus bis 220 nach Christus regierte. Schulleiterin Ji Jiejing, deren Umhang schwarz und rot gemustert ist, hängt ständig am Mobiltelefon. Für sie gehören Han-Dynastie und Handy zusammen. Die neuen Konfuzius-Jünger sind stolz auf das China von damals und auf das China von heute. Sie sehen sich als Vertreter einer uralten Kultur, die jetzt ihre Wurzeln sucht. »Die Kultur, die auf Konfuzius zurückgeht, macht seit Jahrtausenden die Seele Chinas aus«, sagt die Leiterin der Konfuzius-Schule. »Unsere traditionelle Kultur
Weitere Kostenlose Bücher