Mit Konfuzius zur Weltmacht
Aufklärung zu verhindern, schafften die Mikroblogs eine Gegenöffentlichkeit: »Jemand hat den Eisenbahnminister zum Rücktritt aufgefordert, während ich vorschlage, das Eisenbahnministerium aufzulösen, denn es ist ein Netz der Korruption«, schrieb der Politologe Liu Junning in seinem Mikroblog – solche Kommentare werden schnell weitergeleitet.
Die Offiziellen behaupteten, ein Blitzschlag habe zu der Katastrophe geführt, aber mit Ausreden dieser Art wollten sich die Bürger nicht zufriedengeben. Um die Ursachen zu vertuschen, hatten Bagger die Waggons einen Tag nach dem Unfall eingegraben und zugeschüttet. Die Proteste im Internet allerdings führten dazu, dass die Wracks wieder ausgegraben wurden. In einer Online-Umfrage wollte Sina Weibo, Chinas größte Mikroblog-Plattform, wissen, warum die Teile eingebuddelt worden waren. Nur 1 Prozent der Teilnehmer glaubte der offiziellen Erklärung: »für bessere Rettungsmaßnahmen«. 98 Prozent klickten an: »Zerstörung von Beweismaterial«. Auch grundsätzliche Fragen wurden gestellt. »Wir sind überall von diesem chinesischen Tempo umringt, alles wird irrational schnell entwickelt«, schrieb ein Nutzer, der sich »Zhongshendemori« nannte, in seinem Mikroblog. »Die menschliche Würde und unsere Seele bleiben oft auf der Strecke.« Als lokale Behörden Anwälte anwiesen, keine Zivilklagen von Opfern der Zugkollision zu übernehmen, machten Mikroblogger auch das schnell bekannt. Im Ergebnis mussten die Beamten zurückrudern, sie seien »missverstanden« worden. Drei Wochen später erreichte der Aufstand von Konfuzius’ Kindern seinen größten Erfolg: Die Regierung beschloss, keine Genehmigung für Hochgeschwindigkeitsstrecken mehr zu erteilen, bis die Sicherheitsprobleme gelöst sind.
Chinas Führung zensiert das Internet, indem sie bestimmte Suchbegriffe und Blogs sperren lässt. Doch mit den Mikroblogs hat der Austausch von unten ein solches Ausmaß und Tempo erreicht, dass es den Internet-Polizisten schwerfällt, hinterherzukommen. Deshalb sagen viele junge Chinesen, sie empfinden heute größere Freiheit als noch vor wenigen Jahren. Dabei werden die Verbote zum Teil schärfer und die Überwachungstechnik wird perfekter – vor allem auch, weil die Führung eine Jasminrevolution nach arabischem Vorbild fürchtet. Jedoch verliert die Führung immer mehr die Kontrolle. Qihu nanxia lautet eine alte chinesische Weisheit, ins Deutsche übersetzt: »Wer den Tiger reitet, kann schwer wieder absteigen.«
Manchmal hingegen erscheint das anders, etwa im April 2011, als der Künstler Ai Weiwei auf dem Pekinger Flughafen verhaftet und dann für zweieinhalb Monate ins Gefängnis gesperrt wurde. Bevor das passierte, besuchten wir ihn. Mit seinem Vollbart und seiner kräftigen Gestalt sieht er ein bisschen so aus, wie man sich Konfuzius vorstellt. Viele chinesische Internetnutzer nennen ihn wegen seines mutigen Engagements den Heiligen Ai. Der 1957 geborene Sohn eines bekannten chinesischen Dichters wohnt am Stadtrand von Peking in einem traditionellen chinesischen Wohnhof, den er »Fälscher-Werkstatt« nennt. An die Mauer hat er »Fuck« gepinselt. In seinem Studio fällt eine Skulptur ins Auge – ein maskierter Räuber hat Sex mit einer Bäuerin. Man könnte glauben, Ai Weiwei sei ein Zyniker. Doch der Eindruck täuscht, denn neben dem Kunstwerk stehen die Ranzen von Kindern, die beim Erdbeben in der Provinz Sichuan 2008 von einstürzenden Schulbauten getötet wurden. Die Eltern dankten ihm, schließlich hatte er sich ihrer Sache angenommen: Sie kämpften gegen korrupte Kader, die Gelder für erdbebensichere Gebäude in die eigene Tasche gesteckt hatten und die Schüler in Bauten »wackelig wie Tofu« umkommen ließen. Die Partei verschleierte das, übertönte die Trauer über die toten Kinder mit patriotischem Gebrüll über die »glorreichen Erdbebenhelfer«. Es war Ai Weiwei, der zu den Eltern fuhr und sagte: »Ganz China muss wissen, wie viele Schüler hier gestorben sind, wie sie heißen und welche Klasse sie besucht haben.«
Solche Nachforschungen sind in China gefährlich. Im August 2009 ging Ai Weiwei zum Gerichtsprozess gegen einen seiner Helfer in Sichuan. Leute von der Staatssicherheit nahmen den Künstler fest und verprügelten ihn. Er erlitt eine Hirnblutung und musste im Münchner Klinikum Großhadern operiert werden. Daraufhin unterschrieben bekannte Chinesen einen »Appell zur Unterstützung von Ai Weiwei«. Als die DDR 1976 den Sänger Wolf
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