Mit Konfuzius zur Weltmacht
nicht so locker zu. Von ihrer Hochzeit hat sie nichts gesehen. Ein undurchsichtiges rotes Seidentuch verschleierte ihr Gesicht, als der Ochsenkarren sie ins 20 Kilometer entfernte Nachbardorf brachte. Über ihrem Bauch baumelte eine Flasche Schnaps, die sollte Reichtum bringen, an ihren Rücken war ein Spiegel gebunden, um die Geister abzuschrecken. Sie war 14, ihr Bräutigam 16, ein Onkel hatte die Ehe arrangiert. Zwei Tage feierten sie, futterten und soffen ohne Unterlass. Sie blieb im Dunkeln. Wie es Brauch war, lüpfte am zweiten Abend der Bräutigam ihren Schleier – erst wenige Minuten vor dem Geschlechtsverkehr sah sie ihren Mann zum ersten Mal. »Mein Eindruck von ihm?« Sie schaut verdutzt und schweigt. »Ihre Füße waren schön«, sagt er. Was passierte dann? »So etwas fragt man doch nicht!«, ruft einer ihrer Söhne dazwischen. Und die Liebe? Großvater Qi antwortet: »Daran haben wir damals nicht gedacht, wir arbeiteten auf dem Feld.«
»Als ich noch auf dem Land arbeitete, war ich erstaunt über das Treiben der Bauern«, sagt der Pekinger Sexualforscher Ma Xiaonian, »die Leute hatten keinen Strom und deshalb keinen Fernseher, Sex war die wichtigste Freizeitbeschäftigung.« In weißem Arztkittel empfängt der 60-Jährige Patienten in seiner Abteilung für Sexualmedizin der renommierten Tsinghua-Universität. Männer mit vorzeitigem Samenerguss suchen ihn ebenso auf wie schwangere Schulmädchen. Über seinem Schreibtisch hängt ein Kalender mit chinesischen Models für Reizwäsche neben einer Urkunde des American Board of Sexology. »Chinesen erfreuten sich immer am Sex, christliche Begriffe wie ›Sünde‹ sind bei uns unbekannt«, sagt er. »Sexshops und Bordelle haben wir mittlerweile mehr als jedes andere Land, aber Schriften zur Sexualaufklärung werden zensiert«, kritisiert Doktor Ma. Und die Leute hier scheuen sich, vor anderen zu reden. Per Internet befragte er deshalb im Jahr 2004 genau 31 482 chinesische Frauen und 61 864 Männer. Ergebnis: 47,4 Prozent der Ehemänner und 42,4 Prozent der Ehefrauen betrügen ihre Partner. »Leider erreichten wir nur die Stadtbevölkerung«, bedauert Ma. Auf dem Land, wo die Mehrheit der Chinesen lebt, hatte damals kaum jemand Internetanschluss. Der Umfrage zufolge halten sich 13,5 Prozent der Männer eine Geliebte. Oft zahlen sie der ernai , der »Zweitfrau«, den Lebensunterhalt und eine Wohnung. Sind sie reich, schenken sie ihr sogar ein Auto.
Wer im boomenden Shenzhen an der Grenze zu Hongkong ins Taxi steigt und als Fahrtziel ernai cun angibt, »Zweitfrauendorf«, wird ohne Rückfragen richtig befördert. Graue Wohnsilos ragen bis zu 30 Stockwerke hoch in den Himmel, der Begriff Dorf bezieht sich auf die Herkunft der Mieterinnen, überwiegend arme Mädchen vom Land.
Chen Li, 30, kam vor sechs Jahren aus einem verarmten 7000-Einwohner-Kaff in der Provinz Sichuan nach Shenzhen. Ihre Geschichte gleicht denen ihrer Nachbarinnen: Zunächst nähte sie Kleider in einer stickigen Fabrikhalle, Monatslohn umgerechnet 70 Euro. Sie war nett zum 50-jährigen Hongkonger Abteilungsleiter, tröstete ihn, wenn er im Stress war, wusch ihm die Wäsche. Schon nach wenigen Monaten gab sie die Arbeit im Werk auf, er zahlt ihr seither umgerechnet 700 Euro pro Monat. Vorher hauste sie mit acht Kolleginnen in einem Wohnheimzimmer, jetzt lebt sie allein in der von ihm bezahlten Zweizimmerwohnung. DVD-Player, Goldfischaquarium und der volle Schminktisch sind die Insignien des Zweitfrauen-Wohlstands. Der Preis: Wenn er nicht gerade bei seiner Ehefrau und seinen beiden Kindern in Hongkong weilt, muss sie ihm jederzeit zu Diensten sein. »Ich habe keine Gefühle für ihn«, sagt Chen Li, ohne zu zögern. »Es geht mir nur um das Geld.«
Zweitfrauen, die verlassen werden, wandern oft in die Prostitution ab. Rotlichtviertel sind in China zwar verboten, aber in vielen Wohngebieten finden sich Bordelle, getarnt als Friseurläden, Massagesalons oder Karaoke-Klubs. Bevor es in Letzteren zum Sex kommt, wenn überhaupt, singen, flirten und schmusen die Gäste mit den xiaojie , den Karaoke-»Fräulein«. Der kanadische Konfuzius-Experte Daniel A. Bell, Philosophieprofessor an der Pekinger Tsinghua-Universität, sieht bei dieser chinesischen Form der Prostitution den Einfluss des Weisen: Nicht nur habe jener den Gesang hoch geschätzt, die (wenn auch zeitlich begrenzte) Fürsorge, die der Gast der jungen Frau gegenüber zeige, entspreche dem chinesischen Denken mehr, als direkt »zur
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