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Mit Kurs auf Thule

Mit Kurs auf Thule

Titel: Mit Kurs auf Thule Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirsten A. Seaver
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Eine solche Argumentation mit Ursache und Wirkung ist jedoch sinnlos, solange wir weder wissen, wann genau die Ostsiedlung aufgegeben wurde, noch die Beziehung zwischen dem jeweiligen Klima und der Situation der mittelalterlichen Bewohner kennen – oder auch nur wissen, wie sie |30| auf Klimaschwankungen reagierten. Als sicher kann nur gelten, dass um 1000 n. Chr. die Durchschnittstemperaturen im Südwesten Grönlands etwa mit denen um das Jahr 2000 vergleichbar sind und dass im dazwischen liegenden Jahrtausend viele Klimaschwankungen zu bewältigen waren. Der große Klimawandel, der Forst- und Landwirtschaft in Grönland in bisher nie dagewesener Größenordnung ermöglicht, hat erst nach 2000 eingesetzt. Grönland erlebt gegenwärtig eine Erwärmung ohne bekannte Parallele in den letzten tausend Jahren. So hoch waren die Temperaturen nicht einmal am Ende der »mittelalterlichen Warmzeit«, als Eirik der Rote und seine Pioniere die ersten Bauernhöfe in ihrer neuen Kolonie anlegten. Paläobotanische Untersuchungen von Samen und anderen Pflanzenresten aus der Ost- wie aus der Westsiedlung zeigen, dass die Nordmänner zwar zählebige Wurzelpflanzen kultivierten und sogar Flachs anbauten, aber selbst das widerstandsfähigste Getreide nicht zur Reife bringen konnten. 13
    Hartnäckig hält sich auch die Erklärung, dass der unterbrochene Kontakt mit Norwegen um 1400 herum der grönländischen Kolonie unausweichlich den Todesstoß versetzt haben müsse. Allerdings hatte die Ostsiedlung nach der Unterbrechung der formellen Beziehungen zu Norwegen noch ein bis anderthalb Jahrhunderte Bestand, was doch nahelegt, dass diese Erfahrung durchaus erträglich war. Die Frage nach der Rolle Norwegens im Leben der Grönländer ist allerdings durchaus wichtig und soll in verschiedenen Zusammenhängen in späteren Kapiteln wieder aufgenommen werden.
    Außer Zweifel steht jedenfalls, dass die Nordmänner aus Grönland verschwanden. Neuere archäologische Untersuchungen zeigen, dass die Westsiedlung um 1400 verlassen wurde (nicht um 1350, wie stets behauptet wurde) und dass, vielleicht mit Ausnahme einiger weniger Versprengter, die nordischen Bewohner die Ostsiedlung um 1500 verließen. Doch selbst die besten verfügbaren historischen und archäologischen Informationen können weder die Umstände noch den zeitlichen Ablauf der Entscheidungen, die zur Aufgabe dieser Gemeinden führten, erhellen. Niemand war dabei, als die Nordmänner Grönland verließen, und niemand weiß, warum und wohin sie gingen.

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    |31| 2 In den Weiten des Nordmeeres
    Die Tausendjahrfeiern zu den Entdeckungsreisen der Wikinger im Jahr 2000 haben im Bewusstsein der Öffentlichkeit einmal mehr das Bild heraufbeschworen, dass damals, um das Jahr 1000 herum, blutrünstige Seefahrer aus dem hohen Norden ausschwärmten, um die wehrlosen Europäer auszuplündern und zu überrennen, bis sie schließlich in den Indianern ebenbürtige Gegner fanden. Das ist sicher eine faszinierende Vorstellung, die jedoch dem vielschichtigen Charakter der mittelalterlichen Nordmänner in keinster Weise gerecht wird.
    Die Begriffe »Nordmann/Normanne« und »Wikinger« werden oft ebenso wenig differenziert wie die nordischen Länder selbst. Die Wikingerzeit umfasst grob gesagt die Spanne vom Ende des 8. Jahrhunderts bis etwa 1050–1100 n. Chr. Die Wikinger waren ganz sicher Nordmänner, doch nicht alle Menschen aus dem Norden waren Wikinger. Wir werden uns hier vor allem mit denjenigen nordischen Gesellschaften befassen, die in der norwegischen Kultur wurzeln, nicht mit der Gruppe norwegischer, schwedischer und dänischer Krieger, die als gewalttätige Piraten, Plünderer und Brandschatzer unter dem Namen »Wikinger« bekannt sind. In Anbetracht der unterschiedlichen geografischen und topografischen Umstände, die im Mittelalter die Binnenwirtschaft jedes Landes ebenso prägten wie dessen Beziehungen zu den Nachbarregionen, entwickelten sich die Geschichte und die Kultur Norwegens, Schwedens und Dänemarks schon früh sehr unterschiedlich. So unternahmen hauptsächlich Schweden und Finnen die nordischen Expeditionen nach Osten, über Ostsee und Weißes Meer hinweg auf den gewaltigen Flüssen bis weit nach Russland hinein, während an den Unternehmungen Richtung Westen vor allem Männer aus Norwegen, besonders aus Westnorwegen, und Dänemark beteiligt waren.
    |32| Die meisten Nordmänner verdienten sich ihren Lebensunterhalt nicht mit Beutezügen – selbst damals nicht, als die

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