Mit Kurs auf Thule
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Adams geografische Vorstellungen kann man nur verstehen, wenn man sich bewusst macht, dass die mittelalterlichen runden
mappaemundi
zeichnerische Kunstgriffe waren, um eine runde Welt auf der Fläche darzustellen. Es ist deshalb falsch, anzunehmen, dass Adam und seine Zeitgenossen sich die Welt als Scheibe vorstellten – diese Ansicht kam erst im 19. Jahrhundert in Mode und ist in bestimmten Kreisen noch heute verbreitet (vgl. hierzu ausführlich Kapitel Fünf). Doch Forscher, die sich mit historischer Kartografie beschäftigen, sind sich heute sicher, dass das Wissen um die Kugelform der Erde bereits in der Antike aufkam und danach nie wieder ganz in Vergessenheit geriet. 3 Ein Europäer des Mittelalters, der sich im Geiste auf die Reise machte und den Atlantik |34| Richtung Westen überquerte, erwartete, früher oder später wieder auf Land zu stoßen, und hielt diese ferne Küste für den äußersten Osten Eurasiens. Wie selbst die frühesten literarischen Werke Islands und Norwegens andeuten, teilten gut informierte Menschen im hohen Norden, darunter auch Eirik der Rote und seine Männer, diese Weltsicht. Die Nordmänner segelten vor tausend Jahren kühn immer weiter auf den Atlantik hinaus, voller Zuversicht, dass sie schon nicht über einen imaginären »Rand« hinabstürzen würden, wenn sie Island als Trittstein auf dem Weg nach Grönland und Nordamerika benutzten.
|36| Wie navigierten die Nordmänner?
Eirik hatte die gesamte Strecke von Snæfellsness (Schneeberghalbinsel) im äußersten Westen Islands her immer geraden Kurs gehalten. Der große Gletscher, dem die Halbinsel ihren Namen verdankte, galt den nordischen Seeleuten als zuverlässige Landmarke, und Eirik wusste höchstwahrscheinlich, dass die Halbinsel auch auf einer guten Breite lag, um sich von dort aus Grönland zu nähern. Die nordischen Seeleute waren Fachleute im Breitensegeln und konnten auf einen reichen Wissensschatz über Küsten, Strömungen und Wanderungen von Vögeln, Fischen und Säugetieren zurückgreifen. Sie kannten die Bewegungen der Himmelskörper und navigierten nach dem Polarstern, wenn der Himmel dunkel genug war, um Kontrast zu bieten. In den Sommermonaten, wenn man selbst den Polarstern vor dem hellen Himmel im hohen Norden kaum sah, beobachteten sie den Lauf der Sonne am Firmament. Wie andere zuvor konnten sie die Tageszeit wie auch die Richtung in vertrauten Breiten vom Stand der Sonne am Himmel ablesen.
Die Kunst, die Zeit nach dem Sonnenstand zu bestimmen, ist eng mit der Aufteilung des Horizonts in Kompasspunkte verbunden. Dieses verbundene Wissen ist die Grundlage für die Herstellung einer Sonnenuhr oder auch einer einfachen Peilscheibe zur Navigation. Bei beiden Gerätschaften wird auf einer Scheibe der Schatten markiert, den ein lotrechter Stock
(gnomon)
während des Laufs der Sonne wirft, und zwar an dem Breitengrad und zu der Jahreszeit, zu der die Scheibe gebraucht werden soll. Das Prinzip kannte schon Novius Facundus, als er zwischen 13 und 9 v. Chr. das Horologium des Augustus in Rom baute, und es wäre nun wirklich überraschend, wenn die Wikinger und die nordischen Händler auf ihren Reisen in Mittelmeerländer oder auch nach England, wo um das Jahr 1000 in Canterbury eine Sonnenuhr in Gebrauch war, diese Zeitmesser nicht wahrgenommen hätten. Ebenso überraschend wäre es, wenn die Seefahrer aus dem hohen Norden es nicht geschafft hätten, mithilfe der Schattenkurve des
gnomon
auf See einen Kurs entlang eines bestimmten Breitengrades zu finden und zu halten.
Der englische Wissenschaftler Peter G. Foote ging als erster davon aus, dass das altnordische Wort
sólarsteinn
(Sonnenstein) sich auf ein Navigationsgerät bezog, das sich die Brechung des Sonnenlichts in einem Stück kristallinen Kalkstein zunutze machte. 9
Das war eine geniale Idee, doch die literarischen Belege wie die materiellen Funde weisen in eine andere Richtung. Zum einen verwendeten isländische Texte das Wort
sólarsteinn
bis in die Mitte des 15. Jahrhunderts hinein, als mechanische |37| Uhren und Magnetkompasse im Norden in Gebrauch kamen, gleichermaßen für Zeitmess- wie für Navigationsgeräte, und Kircheninventare am Bischofssitz Hólar und in Hrafnagil bezeichnen einen gefassten Sonnenstein zur Zeitangabe als »sólarsteirn« (sic), während sie mit »kluckur« Kirchenglocken von Sonnenuhren unterscheiden. 10 Vor allem aber war eine Peilscheibe mit
gnomon
und Ritzungen, aus Holz oder aus Stein gefertigt, so leicht zu benutzen
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