Mit Kurs auf Thule
aufpassen, mahnt der Vater, denn in der See um Grönland gebe es
hafger ∂ ingar
(wahrscheinlich Tsunamis) und viele Ungeheuer, darunter die
margygr
mit schlanken Händen und dem vollbusigen Oberkörper einer Frau, doch mit den langen Haaren und dem Bart eines Mannes. Man habe sie nicht sehr oft gesehen, so der Vater, aber »die Menschen haben etwas über sie zu erzählen, also muss sie jemand gesehen oder zumindest einen Blick auf sie geworfen haben«. Weitaus nützlicher für Händler sei das
rostungr
(Walross), das im Meer bei Grönland lebe und als eine Art Seehund beschrieben werde, mit zwei großen Stoßzähnen aus Elfenbein im Oberkiefer und mit einer zähen Haut, die in Streifen geschnitten starke Seile liefere. Neben anderen Tierhäuten machten diese Waren Grönland zu einem lohnenden Ziel für einen Händler, der bereit sei, den Gefahren des Nordmeeres zu trotzen, zu denen auch das entsetzliche Eis vor Grönlands Ost- und Nordostküste gehöre. Dem Vater war es dennoch wichtig, seinem Sohn mitzuteilen, dass dieses Land zwar gute Lebensbedingungen für Menschen und Tiere biete, aber nur wenige Menschen dort lebten und noch |27| weniger das Land besuchten. Wer es tat, wollte seine Neugier befriedigen, Ruhm ernten und ein Vermögen im Handel machen, von dem man sich einen guten Gewinn versprechen könne an einem Ort, »der so fern von anderen Ländern liegt, dass die Menschen selten dorthin kommen«. 9
Warum scheiterte die Kolonisation? Moderne Untergangsszenarien
Noch heute ist Grönland mit seinen knapp 65 000 Einwohnern dünn besiedelt, und die Nordmänner vor einem Jahrtausend waren wohl nicht viel mehr als Staubkörner in dieser gewaltigen Landschaft. Von den fünfundzwanzig offenen Rahseglern, die unter Eiriks Führung beladen mit Auswanderern und deren Habseligkeiten irgendwann zwischen 986 und 990 n. Chr. aufbrachen, erreichten nur vierzehn Grönland. Einige Schiffe sanken auf der Fahrt, andere sahen sich zur Umkehr gezwungen. Die verbliebenen Passagiere reichten jedoch schon aus, um die Hauptkolonie im Südwesten (die Ostsiedlung) und danach eine abhängige Kolonie etwa 500 Kilometer weiter im Norden (die Westsiedlung) zu gründen. Offenbar waren sich die Siedler der Tatsache bewusst, dass die Westküste Grönlands beträchtlich nach Westen ausgreift, je weiter man nach Norden kommt. Neuere wissenschaftliche Untersuchungen haben bestätigt, dass beide nordische Siedlungen in Grönland um 1000 n. Chr. bewohnt waren. 10
Diese Pioniere, Männer wie Frauen, waren an körperlich harte Arbeit ebenso gewöhnt wie an die extremen Lebensbedingungen im hohen Norden, wo der Existenzkampf eine noch größere Herausforderung darstellte als im übrigen mittelalterlichen Europa. Sie waren fest entschlossen, eine Gesellschaft entstehen zu lassen, in der ihre ererbte, auf Jagd, Fischfang und Viehhaltung gegründete Kultur weiter bestehen konnte. Gerade wegen der reichen Naturschätze, die sie in Grönland vorzufinden hofften, waren sie dorthin ausgewandert, und sie hatten ganz offensichtlich Erfolg, denn es sollten fünf Jahrhunderte vergehen, bis kein Rauch mehr aus den mit Rasensoden gedeckten Dächern ihrer Siedlungen aufstieg.
Doch obwohl sich die Nordmänner so lange in Grönland hielten, wird ihr Unternehmen in der Wissenschaft fast ausnahmslos als gescheitert angesehen. Trotz ihrer erwiesenen Fähigkeit, in einer so rauen Umwelt ein halbes Jahrtausend zu überleben, stellte man sie durchgängig als tragische Opfer äußerer Umstände dar, die noch durch eigene Unzulänglichkeiten zu ihrem Ende beigetragen |28| hatten. Doch warum scheiterten sie? Man hat viele Erklärungen dafür gefunden, warum sich aus den tragfähigen Fundamenten, die Eirik der Rote gelegt hatte, eine angeblich zum Scheitern verurteilte Gesellschaft entwickeln konnte – vorgeschlagen wurden etwa genetische Degeneration, Fehl- und Mangelernährung, unfachmännische Ressourcennutzung, tödliche Auseinandersetzungen mit angreifenden Inuit, das Unvermögen, von den Inuit zu lernen, die aus Europa eingeschleppte Pest, Piratenüberfälle aus Europa, die immer stärker fortschreitende Isolation von Europa, der Zusammenbruch einer schon geschwächten Gesellschaftsordnung, die Rückkehr nach Island und Norwegen und schließlich vor allem ein nachhaltiger Klimawandel.
Der amerikanische Autor Jared Diamond macht in seinem Bestseller
Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen
(2005) das nordische Grönland zu seinem Paradebeispiel
Weitere Kostenlose Bücher