Mit Kurs auf Thule
erfolgreiche und dauerhafte nordische Präsenz in diesem Gebiet über das ganze Mittelalter hinweg. 6 Dieser Turm und andere angeblich nordische Schöpfungen nährten eine offenbar unausrottbare, weil wunderschöne, Geschichte. Das »Postskriptum« behandelt sie in Verbindung mit der
Vínland-Karte
und anderen zweifelhaften Leistungen, die man den mittelalterlichen Nordmännern zugeschrieben hat.
Probleme ergeben sich auch daraus, dass Archäologen, die heute in Grönland arbeiten – meist unter sehr schwierigen Bedingungen –, zusätzlich mit unfachmännischen frühen Grabungen an nordischen Stätten zurechtkommen müssen. Als etwa durchsickerte, dass es in Herjolfsness (dem südlichsten Ausläufer der größten nordischen Siedlung) einen alten nordischen Friedhof gebe, grub ein dänischer Handelsassistent namens Ove Kielsen dort im Jahr 1839 zweieinhalb Tage lang die Erde um und fand ein paar Holzkreuze, einen Schädel, an dem noch blondes Haar klebte, sowie ein Kleidungsstück, das zunächst als »Matrosenjacke« identifiziert wurde, sich später jedoch als Teil eines mittelalterlichen Männergewands entpuppte. Nachdem er für seine schon geleistete Arbeit vier Pfund Sterling Lohn erhalten hatte, heuerte Kielsen vierundzwanzig Mann an, die weitere fünf Tage schaufelten und einen großen Teil des Friedhofs bis zu einem Meter tief aushoben. Durch ihre Bemühungen, die man nach heutigen Standards nur als reinen Vandalismus einstufen kann, kamen einige bescheidene, mehr oder weniger gut erhaltene Gegenstände ans Tageslicht, die die Fachleute in Kopenhagen für wertlos hielten. 7
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist durch umfangreiche Forschungsarbeit nachgewiesen, dass sich trotz des mittelalterlichen Ausgriffs der Nordmänner auf den Nordatlantik, der zur Besiedlung Grönlands führte, eine bemerkenswerte kulturelle Verwandtschaft unter allen nordischen Gesellschaften rund um den Nordatlantik und die Nordsee erhielt. Gleichzeitig betrachteten sich die Siedler auf ihren verschiedenen Inseln sehr schnell als Bürger ihrer neuen Heimatländer, nicht mehr als Norweger. Diese zweischneidige Situation verleiht den zeitgenössischen Kommentaren zu Grönland in der
Historia Norvegiæ
und auch Aussagen im
Konungsskuggsjá
(
Königsspiegel
) zusätzliche Bedeutung – auf beide wurde bereits im Kapitel »Zu den Quellen« hingewiesen.
Beide Texte verweisen darauf, dass die Gefahr, auf hoher See ins Nichts zu fahren, eines der Hauptrisiken war, die ein Seefahrer in jener Zeit einging. Die
Historia Norvegiæ
berichtet, wie einige isländische Seeleute auf der Rückreise von Norwegen in dichten Nebel gerieten und so weit vom Kurs abgetrieben wurden, dass sie gar nicht mehr wussten, wo sie sich befanden. Als das Wetter |26| schließlich aufklarte, sahen sie angeblich Land zwischen Grönland und Biarmaland, der nordischen Bezeichnung für die Region des Weißen Meeres, und jenseits davon. Dort, so schworen sie nach ihrer Rückkehr, erblickten sie unglaublich riesige Menschen und sahen junge Mädchen, die angeblich durch das Trinken von Meerwasser schwanger werden konnten. Nach diesen altbekannten »Leckerbissen« aus dem mittelalterlichen Legendenschatz zur Bevölkerung fremder Länder zieht sich der Verfasser der
Historia
auf zeitgenössische geografische Vorstellungen zurück und erklärt, dass man jenseits jener Wunderländer und von ihnen durch Eisberge getrennt das von Isländern besiedelte Grönland finde. Grönland bilde Europas äußerste Grenze nach Westen, so schreibt der Autor, und erstrecke sich bis hin zu den afrikanischen Inseln, wo der Große Ozean münde. Außerdem, so fügt der Chronist hinzu, lebe weit nördlich der nordischen Siedlungen in Grönland ein Stamm kleiner Menschen, von den Jägern Skraelinger genannt, die ihre Waffen aus Walrosszähnen und scharfen Steinen herstellten, da sie kein Eisen hätten. 8 In Kapitel Fünf werden wir uns ausführlich mit diesen Skraelingern befassen.
Nachdem der Vater im
Königsspiegel
seinen Sohn ermahnt hat, ein aufstrebender Kaufmann müsse auf alle Wechselfälle des Lebens gefasst sein, auf See wie auch in heidnischen Ländern, liefert er eine Beschreibung Irlands, die direkt aus den Schriften des Gerald von Wales (um 1146–1223) stammt. Er lobt das milde Klima der Insel, in dem die Menschen selbst im Winter keine Kleidung brauchen, und behauptet, Irland sei so heilig, dass es dort weder Schlangen noch Kröten gebe. Wer noch weiter hinausfahre, müsse allerdings
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