Mit Kurs auf Thule
für das Scheitern einer Gesellschaft und erklärt unmissverständlich: »Die normannisch-grönländische Gesellschaft brach völlig zusammen: Tausende von Einwohnern verhungerten, kamen bei inneren Unruhen oder im Krieg gegen feindliche Mächte ums Leben oder wanderten aus, bis in ihrem Gebiet schließlich niemand mehr lebte.« Die Gesellschaft der Auswanderer sei, so schreibt Diamond, durch innere wie äußere Einflüsse zum Untergang verurteilt gewesen. Wir sollten deshalb aus dem Zusammenbruch dieser Gesellschaft lernen, denn viele unserer heutigen Probleme seien vergleichbar mit jenen, denen sich die Nordmänner in Grönland gegenübersahen, da sie schlecht an die dortigen widrigen Lebensbedingungen angepasst waren und da es ihnen an planerischer Weitsicht fehlte. Die nordische Gesellschaft in Grönland zeigt uns so – Diamonds Überzeugung nach – beispielhaft einen äußerst vielschichtigen prähistorischen Zusammenbruch, und er fügt hinzu, dass es auch der bestbelegte sei, da es sich um »eine gut untersuchte europäische Gesellschaft mit einer Schriftsprache« gehandelt habe. 11
Zugegeben, die nordischen Grönländer waren Europäer, doch wir wissen nicht, wie weit ihre Lese- und Schreibkünste reichten, und ihre Gesellschaftsordnung ist selbst bis heute noch nicht ausreichend erforscht. In der Öffentlichkeit halten sich so noch immer viele Missverständnisse über das nordische Grönland, auch über die Entwicklungen, die Diamonds Ansicht nach wohl den selbst verschuldeten Niedergang der Nordmänner auf dieser Insel verursachten: »Umweltschäden, Klimaveränderung, Verlust freundschaftlicher Kontakte zu Norwegen, Verstärkung des feindseligen Verhältnisses zu den Inuit sowie das politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Umfeld von Normannisch-Grönland«. 12 Diese Thesen schreien geradezu danach, das gängige Wissen über das politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Umfeld der |29| Nordmänner in Grönland wie auch die verhängnisvollen Missstände, die diesen europäischen Vorposten und fernen Leuchtturm der mittelalterlichen römischen Kirche angeblich plagten, noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Zwei Fragen drängen sich auf: Wie sah das Ende der Nordmänner in Grönland wirklich aus? Und halten die aufgezählten erschwerenden Umstände einer näheren Überprüfung stand?
Erosion und Klimaveränderungen allein können kaum für das Verschwinden einer fest verwurzelten Bevölkerung verantwortlich sein, solange es noch genügend Nahrung aus Land und Meer gibt. Die Isländer hatten im Mittelalter ähnliche Umweltprobleme zu bewältigen wie die Grönländer und litten zudem noch unter verheerenden Vulkanausbrüchen und Erdbeben, aber sie überlebten und erholten sich von jeder Katastrophe, auch vom Schwarzen Tod, der Island schließlich 1402 erreichte – für Grönland ist nichts Vergleichbares belegt. Man sollte auch nicht davon ausgehen, dass die Grönländer im späten 15. Jahrhundert weniger gut mit Wetterschwankungen umgehen konnten oder mit einem weniger stark ausgeprägten Lebenswillen ausgestattet waren als ihre Vorfahren, die das Land besiedelt hatten, und ihre Zeitgenossen in Island.
Durch gegenwärtige Diskussionen über die globale Erwärmung taucht dennoch die klimatische Situation zur Zeit der nordischen Grönländer immer wieder als Faktor auf, und man wirft nur allzu leichtfertig mit Begriffen wie »mittelalterliche Warmzeit« und »kleine Eiszeit« um sich. Obwohl die »kleine Eiszeit« im hohen Nordwesten erst kurz vor 1700 n. Chr. als Phänomen zu beobachten war, wird der Begriff in Texten über das nordische Grönland oft schon für die Zeit ab etwa 1350 verwendet – damals gab es eine Phase der Abkühlung, die aber von mehreren Perioden milderen Wetters durchbrochen wurde. Obwohl viele »Informationen« über diese Abkühlung sich aus der falschen Deutung einer angeblich aus dem 14. Jahrhundert stammenden Navigationshilfe für das Segeln nach Grönland ableiten, die stark durch Interpolationen aus dem 17. Jahrhundert verfälscht ist, haben sie doch die Deutungen komplexer Klimadaten aus diesem riesigen Gebiet stark beeinflusst.
Die neuere Klimaforschung zeigt indessen, dass kaltes und/oder stark wechselhaftes Wetter die Ostsiedlung in der Zeit vor ihrer Aufgabe beeinträchtigte, und hat der Argumentation, dass ein sich verschlechterndes Klima wesentlich zum Verschwinden der nordischen Grönländer beigetragen habe, wieder Aufschwung verliehen.
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