Mit Kurs auf Thule
Piraten aus dem hohen Norden dank ihrer überlegenen Schiffe und ihrer erstklassigen Seemannskunst die Menschen in ihrer skandinavischen Heimat und jenseits davon in Angst und Schrecken versetzten. Sie lebten vielmehr von Ackerbau, Fischfang, Jagd und Handel, und einige nutzten ihre seemännische Überlegenheit, um neues Siedlungsland zu erschließen. Auf der ständigen Suche nach einem besseren Leben sondierten Piraten wie Nicht-Piraten neue Regionen der Welt und kappten die Wurzeln zu ihrer alten Heimat. Frauen und Kinder kamen nur dann mit auf die lange Reise, wenn dahinter das Ziel stand, eine neue Heimat zu finden; an den Beutezügen der Wikinger waren sie nicht aktiv beteiligt. Um etwa 1000 n. Chr. hatten Wikinger ebenso wie Nicht-Wikinger aus dem Westen Skandinaviens englische, irische und schottische Kolonien gegründet, zu denen auch Siedlungen auf der Isle of Man, den Hebriden, den Orkneys und den Shetlands zählten; sie hatten sich auf den Färöern niedergelassen und lebensfähige neue Gemeinden auf dem fernen Island und Grönland geschaffen. An all diesen Orten fanden Archäologen Beweise dafür, dass die Familien sich von Ackerbau und Fischfang ernährten, nicht von Diebstahl und räuberischer Erpressung.
Die meisten dieser nordischen Auswanderer werden auf immer namenlos sein, doch unter den wenigen, die durch die isländischen Sagas unsterblich wurden, ist Eirik »der Rote« Thorvaldsson bis heute eine Legende geblieben. Egal, welchen Maßstab man anlegt – die Leitung der nordischen Kolonisierung Grönlands in den letzten Jahren des 10. Jahrhunderts war ein unglaublich kühnes Unternehmen, und das Verschwinden der Siedler nach einem halben Jahrtausend unterstreicht nur noch den Eindruck einer mutigen Auseinandersetzung mit dem Unbekannten.
Das geografische Wissen des Mittelalters
Wie bereits im Kapitel »Zu den Quellen« erwähnt, stammt unser Wissen über Eiriks Unternehmen aus der »Saga von Eirik dem Roten«, der »Saga von den Grönländern« und Aris
Íslendingabók
. Generationen von Historikern und Archäologen haben diese Quellen immer wieder für ihre Analyse der Geschehnisse herangezogen.
Aris gedrängte, aber sachgerechte Überblicksdarstellung hebt sich dabei wohltuend vom doch sehr fantasievollen Bild der nordischen Grönländer, das Adam vom Bremen entwarf, ab. Adam erwähnt Eirik den Roten und seinen |33| Kreis mit keinem Wort, und doch orientierten er und der isländische Historiker Ari sich an einigen wichtigen kosmografischen Konzepten, die offenbar auch Eirik dem Roten und seinen Seefahrern bekannt waren. Adam hatte zwar nur begrenzte Informationen vom dänischen König Svein erhalten, doch sie reichten aus, um sich zumindest näherungsweise Grönlands Lage auf der Erdkugel als eine Insel westlich von Island zu vergegenwärtigen. Amerika und der Pazifik waren damals noch nicht entdeckt, und so lokalisierte Adam Grönland vor der eurasischen Nordostküste, aber immer noch um einiges näher an bekannten Weltregionen als sein »zweites Thule«. 1 Letzteres lag offenbar am theoretischen nördlichen Scheitelpunkt, den Ptolemaios und andere antike Mathematiker ins Spiel gebracht hatten. In Eiriks Denken über die Nordmeere, auf denen er segelte, hat diese Zuschreibung wohl kaum Eingang gefunden, obwohl er andere geografische Vorstellungen mit Adam und seinen Zeitgenossen teilte.
Adams Denken entsprach ganz und gar den geografischen Theorien des Mittelalters, die man in guten Teilen von der Antike ererbt hatte und in denen der amerikanische Kontinent und der Pazifische Ozean nicht vorkamen. Weil man glaubte, dass Ostasien mit Ostafrika verbunden und der Indische Ozean damit eine Art Binnenmeer sei, lag diesen Vorstellungen zufolge nur der Atlantik zwischen der Ost- und der Westküste einer gewaltigen, drei Kontinente umfassenden Landmasse. Mittelalterliche Kosmographen zeichneten allerdings großzügig Inseln vor beiden Küsten ein und räumten kaum bekannten Orten gern Inselstatus ein. Deshalb waren Grönland und Island ebenso wie Vínland, das die Normannen angeblich jenseits von Grönland gefunden hatten, für Adam asiatische Inseln. Eine ähnliche Vorstellung tauchte fast zwei Jahrhunderte später auch in der
Historia Norvegiæ
auf, deren Autor erklärte, dass Grönland sich die ganze Strecke [d.h. entlang der ostasiatischen Küste] bis zu den »afrikanischen Inseln« hinziehe – Inseln, die sich vor einem verbundenen Ostafrika und Ostasien in Richtung Norden ausdehnten.
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