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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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vom Zugriff des Menschen unabhängigen Natur und einer menschengemachten Kultur schwindet damit für immer dahin. Was Natur einst war, lässt sich nach dem Vollzug genetischer Eingriffe nicht mehr wissen; vom Objekt natürlicher Verhältnisse werden Menschen in ungeahntem Maße zu deren Subjekt . Neu zu orientieren hat sich, ganz nebenbei, auch die philosophische Disziplin der Anthropologie, deren zentrale Frage, was der Mensch »von Natur aus« sei, sinnlos wird; fortan geht es in ihr um die Idee einer möglichen Selbstgestaltung des Menschen, wie Kant sie in der Vorrede zu seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht von 1798, also an der Schwelle zur Moderne, bereits entwarf, um darüber nachzudenken, was der Mensch »als frei handelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll«. Das lässt sich nun auf die genetische Ausstattung jedes einzelnen Menschen beziehen. Die Voraussetzung dafür ist die wirkliche Entschlüsselung der Gene , die das gesamte 21. Jahrhundert in Atem hält und durch die, anders als mit der bloßen Kenntnis des ABC, genetisch gesagt: des ACGT (nach den vier Basen A denin, C ytosin, G uanin, T hymin, aus denen der genetischeCode besteht) ein Wissen von der Bedeutung ganzer Sätze und Texte erworben wird. Um die Romane und innerhalb der Romane einzelne Episoden zu verstehen, die mit dem genetischen Alphabet geschrieben worden sind, bedarf es einer Hermeneutik der Genetik , die Zeit beansprucht und zwangsläufig mit sehr schmerzlichen Lernprozessen verbunden ist. Hermeneutische Grundsätze erweisen sich hier als ebenso gültig wie bei der Interpretation herkömmlicher Texte: dass Zeichen nicht unbedingt identisch sind mit dem, was sie bezeichnen; dass es keine Gewissheit darüber gibt, ob nicht in sie hineingelegt wird, was aus ihnen herausgelesen wird; dass immer neue Interpretationen möglich sind und eine definitive Wahrheit zu keinem Zeitpunkt feststeht.
    Immer wieder sorgen unbekannte Wechselwirkungen zwischen Genen selbst, auch zwischen Genen und nichtgenetischen Faktoren für Überraschungen. Wie zwischen den Buchstaben des geschriebenen Alphabets scheint es eine unüberschaubare Vielzahl von Wechselwirkungen und Kombinationsmöglichkeiten auch zwischen den Genen zu geben, und keineswegs sind sie allein diejenigen, die Prozesse aktivieren, sondern sie werden ihrerseits aktiviert und deaktiviert, durch natürliche oder künstliche Wirkstoffe, die in Zellen eingeschleust werden. Das gesamte Selbst erscheint nicht nur als ein Produkt seiner genetischen Bedingungen, sondern wirkt auf diese auch zurück, wie sich etwa am »Metabolischen Syndrom« zeigt, der Wohlstandskrankheit schlechthin, einer Kombination aus Übergewicht, Vorformen der Zuckerkrankheit, erhöhten Blutfettwerten und erhöhtem Blutdruck: Die daran beteiligten Gene werden offenkundig aktiviert, wenn der Lebensstil des jeweiligen Selbst dies begünstigt. Von wesentlicher Bedeutung aber sind die Wechselwirkungen zwischen Genen und Proteinen (Eiweißen). Sie, die nach genetischen Vorgaben den Körper in seiner plastischen Gestalt erst hervorbringen, schreiben ihrerseits am genetischen Programm mit, sodass nicht nur dem Genom , der Gesamtheit der Gene, sondern auch dem Proteom , der Gesamtheit der Proteine,größte Aufmerksamkeit zukommt. Gene und Proteine bilden gleichermaßen die unabdingbare körperliche Basis des Selbst, ohne die es jedenfalls in gegebener Ausprägung nicht existieren könnte. Proteine aber, die für den Aufbau jeder einzelnen Zelle und für nahezu alle Vorgänge im Körper zuständig sind, sind das eigentliche Faszinosum: Da es weitaus mehr Proteine als Gene gibt, stellt ihre Erforschung eine noch größere Herausforderung als die Genforschung dar. Ihre Wechselwirkungen untereinander sind noch uferloser, und auch das jeweilige »Zellmilieu« scheint Einfluss auf ihren Aufbau zu nehmen. Veränderungen an einer Stelle im »Proteinnetzwerk« ziehen stets Auswirkungen an anderen Stellen nach sich, und eine Winzigkeit genügt, und zu wenige, zu viele oder defekte Proteine generieren viele und schwere Krankheiten. Zu allem Überfluss halten Proteine, anders als Gene, in keinem Moment still, vielmehr befinden sie sich ohne Unterlass im Auf-, Ab- und Umbau: Wenn das Leben eine Baustelle ist, dann vor allem hier, in den Zellen des Selbst.
    Proteine sind der Ansatzpunkt für mögliche Techniken, Therapien und Arzneien, die nicht ins Erbgut eingreifen und daher schonender sein könnten als

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