Mit sich selbst befreundet sein
kosten noch zu viel Kraft: Am besten ist es, die Augen zu schließen, denn die Aufnahme von Licht ist zu kraftraubend; auch nichts mehr zu sagen, denn jedes Wort bedeutet einen irrwitzigenAufwand an Energie; nichts mehr zu hören, nur noch in völliger Ruhe zu liegen und an nichts mehr zu denken, um sich völlig dem Kranksein zu ergeben.
So lässt die Krankheit sich der Integrität des Selbst eingliedern, statt »Identität« aus dem Kampf gegen sie zu beziehen; im Falle chronischer Erkrankung bleibt möglicherweise ohnehin keine andere Wahl. Wenn aber mit den ersten Anzeichen von Genesung das Denken von selbst wieder zurückkehrt, kommt es darauf an, ihm nun die Zeit zu widmen, die noch für eine Weile zur Verfügung steht, und nach Antworten auf die Fragen nach dem »Sinn« zu suchen, die für den weiteren Heilungsprozess wichtiger sein können als alle Medizin. Das Selbst sucht damit nach den Zusammenhängen, in denen es leben kann, aber auch nach solchen, die die Krankheit erst ermöglicht haben. Denn keine Krankheit existiert isoliert für sich, immer ist sie eingebettet in Zusammenhänge eines Selbst und seines Lebens. Der »Sinn« aber vermag zu heilen, da die inneren und äußeren Zusammenhänge, die mit ihm erneut oder neu hergestellt werden, all die Kräfte rekrutieren, die für die profunde Heilung und für ein künftiges Leben benötigt werden. Um schließlich aufzustehen, hinauszugehen und erste Schritte wie ein Kind zu machen, mit unbändiger neuer Freude am Leben nach dem durchstandenen Leid.
Nützlich erscheint es, gewöhnliche Krankheiten, ihre Erscheinungsformen und die möglichen Antworten darauf zu kennen: Etwa den grippalen Infekt mit einer Entzündung der Atemwege, mit Husten, Schnupfen und erhöhter Temperatur; er »kommt drei Tage, bleibt drei Tage, geht drei Tage«, und so ist weiter nicht viel zu tun. Anders bei der Influenza-Grippe mit hohem Fieber, starken Kopf- und Gliederschmerzen, anfallartigem Husten und völliger Entkräftung: Sie erfordert ärztlichen Beistand, Schutz gegen sie bietet allenfalls eine vorbeugende Impfung. Selbst wenn es nun aber um eine ärztliche Konsultation geht, ist sie schon dem Wort zufolge nichts anderes als eine Beratung, der Arzt ein Ratgeber. In vielen Fällen gibt er, wie auch derTherapeut, sinnvollerweise Ratschläge zur einfachen Selbstvorsorge und Selbstmedikation; die definitive Wahl, dem Folge zu leisten, obliegt jeweils dem Selbst. Fundamental ist jedoch die Wahl des Ratgebers , auf die sehr viel ankommt und die mehr von menschlichen als von fachlichen Faktoren abhängig ist: Denn zu beurteilen ist der Arzt oder Therapeut vor allem als Mensch, dessen Beurteilungen plausibel erscheinen und dem zu vertrauen ist – oder nicht. Bereits seine Haltung wirkt wie ein Medikament auf sein Gegenüber – oder eben nicht. Andere Ärzte können konsultiert werden, erhöht wird damit jedoch zugleich die Dringlichkeit der Wahl; denn sie werden gegenteilige Auffassungen vertreten, und für jede wird es überzeugende Beweise geben. Das Selbst kann ein Recht auf Wissen geltend machen, aber auch eines auf Ignoranz; heilsam sein kann beides. Es kann sich selbst kundig machen, Ratgeber lesen und im Internet forschen, aber was dabei in Erfahrung zu bringen ist, wird wiederum widersprüchlich sein. Es kann sich mit Gleichgesinnten austauschen, aber jeder wird auf andere Ärzte, andere Mittel und Methoden schwören. Eine mögliche Option ist auch der Verzicht auf jede eigene Wahl, zwangsläufig jedoch verbunden damit, jede Konsequenz, die sich daraus ergibt, dennoch selbst tragen zu müssen.
Für die Wahl des Arztes kann dessen Zugehörigkeit zu einer »Schule« eine wichtige Rolle spielen: Zur Wahl stehen vor allem Schulmedizin und Naturmedizin ; eine »evidenzbasierte Medizin«, die nur gelten lässt, was durch wissenschaftliche Studien belegt ist, und eine »Erfahrungsmedizin«, die auf das vertraut, was erfahrungsgemäß wirkt – sollte die Wirkung aber nicht erklärbar sein, so ist dies nicht schon ein Grund, von Unwissenschaftlichkeit zu sprechen, denn die momentane wissenschaftliche Erkenntnis stellt keineswegs das Ende aller Erkenntnis dar. Vertraut der Arzt allein der »Apparatemedizin« oder praktiziert er eine »Menschenmedizin« (Christian Hess und Annina Hess-Cabalzar, 2001)? Der Begriff Komplementärmedizin könnte so verstanden werden, dass eine bestimmte Medizinrichtung sinnvoll durcheine andere zu ergänzen ist, damit das Selbst sich nicht einer
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