Mit sich selbst befreundet sein
Richtung allein anvertrauen muss, wo es doch um sein Leben geht, das mutmaßlich vielschichtiger ist als ein medizinisches Modell, welches auch immer es sei. Dass die Auseinandersetzungen zwischen den Modellen je beendet sein könnten, ist nicht zu erwarten; es widerspräche den Erfordernissen der Polarität. Das Selbst wählt und verantwortet jede getroffene Wahl selbst mit dem Gewicht seiner Existenz; dies auch dann, wenn es nicht wählt, also dem jeweils behandelnden Arzt oder Therapeuten folgt oder aber gar nichts unternimmt. Nicht nur die aktive Haltung, sondern auch die passive Hinnahme ist wählbar und kommt lediglich in einer aktivistischen Gesellschaft selten in Betracht. Der Arzt sagt, er könne die Verantwortung nicht übernehmen? Aber die ultimative Verantwortung liegt beim Selbst, niemand kann sie ihm abnehmen. Bei aller Hochschätzung für die Kunst des Arztes ist es letzten Endes allein das Selbst, das dieses Leben lebt, und nur das Selbst bringt es äußerstenfalls auch zu Ende. Um seines Lebens willen greift es sogar zu Mitteln, deren Gebrauch fragwürdig erscheint.
Lifestylepillen?
Diese Mittel korrigieren im Nachhinein, was durch fehlende Vorsorge vielleicht erst zustande kam. Statt seinen Lebensstil bekömmlich für den Körper einzurichten, vermag das Selbst ihn mit ihrer Hilfe einem beliebig gewählten Lebensstil zu unterwerfen; Akt einer Selbstherrschaft anstelle von Selbstmächtigkeit. Auch die Korrektur dessen, was geltenden Normen des Lebens nicht entspricht, wird möglich, sofern Gene und »das Schicksal« nicht so wollten, wie das Selbst jetzt will. Auch das ist ein Wachstumsmarkt des 21. Jahrhunderts: Lifestylepillen etwa gegen »erektive Dysfunktion«, mit denen selbst eine Hemmung des Körpers vor einer Überlastung des Kreislaufs zu überwinden ist. Oder Pillen gegen den Haarausfall, der einem vermeintlichenSchönheitsideal nicht entspricht. Schlankheitspillen sorgen dafür, dass ein Teil der mit der Nahrung aufgenommenen Fette unverdaut wieder ausgeschieden wird, sodass dem Selbst die Mühe einer Variation der Nahrungszusammenstellung erspart bleibt. Wachhaltepillen, ursprünglich gegen eine Schlafkrankheit entwickelt, ermöglichen ihm die rasche Überwindung des »Jet-Lag« und einen Lebensstil des ausdauernden Arbeitens und Feierns – bis der Schlafentzug den Körper auszehrt. Wohlfühlpillen hellen melancholische Schatten auf, um dem Ideal »positiver« Befindlichkeit besser entsprechen zu können. Pillen zur Lebensverlängerung erfüllen den alten und sehr modernen Traum, der Kürze des Lebens zu entkommen. »Hirnpillen«, Brain-Booster , steigern die synaptischen Fähigkeiten, auch Intelligenz genannt, nicht mehr nur bei Demenzerkrankungen, sondern endlich bei sämtlichen Gedächtnisleistungen. In jedem Fall aber handelt es sich um einen chemischen Eingriff in den Körper, der selten einmalig, oft wiederholt und regelmäßig geschieht, ein Doping fürs Leben , das, wie jedes Doping, keine zwingenden Gründe für sich hat, dafür aber langfristig kaum kalkulierbare Konsequenzen nach sich zieht. Dauerhafte Folgewirkungen sind teils bekannt, teils nicht, ebenso die Folgen der Wechselwirkungen mit anderen Mitteln. Folgen des einen Mittels nötigen die Einnahme eines anderen herbei, ein pharmazeutisches Perpetuum mobile , das ein eigenes Menschenbild generiert: der Mensch als Pillen schluckendes Tier, eine Pharmakophagie noch ganz anderen Ausmaßes.
In jedem einzelnen Fall stellt das Selbst ein Experiment mit sich und seinem Leben an, mit offenem Ausgang. Auch hierfür gilt: Die Wahl des Selbst ist ausschlaggebend, sinnvollerweise nur nach kluger Abwägung, denn nicht der Arzt oder Apotheker, nur das Selbst allein trägt »Risiken und Nebenwirkungen«. Falls es solche Mittel wählt, besteht seine Klugheit darin, vorsichtig damit umzugehen und sie maßvoll anzuwenden; jeder wahllose Gebrauch steht in Gefahr, das Selbst lediglich den Normendes »Positiven« anzugleichen, diesen utopischen und zuweilen monströsen Vorgaben des »Guten« für das moderne Leben, die den Eindruck erwecken, alles »Negative«, Störende, Schmerzliche ausschalten zu können. Jedes mangelhafte »Funktionieren« des Selbst führt umstandslos schon zum Trauma einer »Dysfunktion«, und sei es nur bei einem Unwohlsein, das mit einer Pille überwältigt werden muss, da es als möglicher Zustand des Menschseins nicht mehr erkannt, schon gar nicht anerkannt wird. Ist nicht sogar das Glück mit Lifestylepillen
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