Mit sich selbst befreundet sein
Wird irgendeine dieser Verbindungen für problematisch gehalten, stehen unproblematisch noch andere bereit. Dieproblematischen Folgen des Gebrauchs spezifischer Rauschmittel eingrenzen zu wollen, erfordert zwangsläufig, für ausreichenden Ersatz sorgen zu müssen. Und keineswegs ist der Rausch nur ein »übersteigerter Gefühlszustand aufgrund erregender Erlebnisse«; er ist nicht nur »affektvermittelt«, sondern wird auch durch den gezielten Verzicht auf Affekte möglich.
Alles wird möglich im Rausch, vor allem aber, sich zu vergessen , nicht mehr zu wissen, »wer ich bin«; und selbst andere bekunden, das Selbst »nicht wieder zu erkennen«. Was immer vordergründig als Motiv für den Rausch behauptet wird: Aufheiterung, Ablenkung, Genuss, Vergessen, Gemeinschaftserfahrung – hintergründig geht es um die Auflösung der Form des Selbst im temporären Selbstverlust oder in der Leidenschaft der Selbstzerstörung, immer auf der Suche nach einem Anderen in sich selbst. Das Hervorbrechen dieses Anderen und Fremden, das ist Dionysos , der wandelnde Widerspruch zu Apollo , dem Lichtgott, der Formen und somit Grenzen aufscheinen lässt. Um jeder Begrenzung wieder zu entkommen, erhebt etwas im Selbst Anspruch auf das »Anderssein« und macht geradezu ein Recht auf Rausch geltend, ohne den das Leben öde zu bleiben droht. Die dionysische Erfahrung wird sodann zur Erholung von der Begrenztheit, die es bedeutet, ein Selbst zu sein. Vorgestelltes und gegebenes Ich befreien sich von sich, um das »wahre Selbst« zu erfahren, das Selbst der Möglichkeit, der »Potenz« im Wortsinne; daher das Gefühl unendlicher Kraft und Macht im Rausch und die Merkwürdigkeit der Selbsterfahrung, außer sich ganz bei sich zu sein. Grenzen der Wirklichkeit verschwinden, die Differenz von Subjekt und Objekt wird aufgehoben und das Einssein mit anderen, ja mit allen und allem wird möglich. Dass sich in der trunkenen Rede und im tobenden Denken alles mit allem verknüpfen lässt, macht den Rausch zur äußersten Erfahrung von Sinn , wild und unbeherrscht; lediglich Außenstehenden erscheinen die kühnen Aneinanderreihungen von Sätzen, die ungeahnten Perspektiven und anderen Wirklichkeiten mitunter sinnlos. Das berauschteSelbst aber unterliegt einer anderen Erfahrung von Zeit , ja sogar ihrer völligen Auflösung, und einer anderen Erfahrung von Raum , der sich wölbt, verdoppelt und schließlich zersplittert; befreit von allen Bindungen der konventionellen Welt kann es endlich offen sprechen und »die Wahrheit sagen«.
Insofern das Selbst notwendigerweise Möglichkeiten braucht, nicht nur um sie zu realisieren, sondern auch um Weite in ihnen zu fühlen, ist der Rausch unverzichtbar: In der Erneuerung und Erweiterung des eng gewordenen Lebens liegt seine Bedeutung für die Lebenskunst. Die Dionysien der antiken Kultur erkannten dies als grundlegendes Element des Lebens an. Insofern Leben aber nur in Wirklichkeit lebbar ist, ansonsten nicht lebbar ist, muss der Rausch auch wieder ein Ende haben: In der erneuten Verfestigung des Lebens besteht die apollinische Formgebung des Rausches. Da es schwer fällt, ihm Grenzen zu setzen und sein Übermaß wieder einzudämmen, sorgt im Zweifelsfall die Ernüchterung des Lebens selbst dafür; die Frage ist nur, ob dies akzeptiert oder ob sofort der nächste »Kick« gesucht wird: Diese Wahl hat allein das Selbst zu treffen, fatalerweise auch dann, wenn es dazu kaum in der Lage ist. Das Selbst allein muss den Exzess auch aushalten, will es nicht in ihm untergehen. Exzesse sind Verausgabungen, die energetisch aufwändig sind; soll das Leben nicht eine einzige Verausgabung sein, müssen die Energien wieder gewonnen werden: Das ist der Sinn der Ausnüchterung, die ihrerseits zum Rausch der Nüchternheit führen kann. Daran, dass die Wirklichkeit des Selbst und des Lebens immer nur eine begrenzte ist, kann der Rausch nichts ändern. Der Versuch aber, ihn grenzenlos haben zu wollen und mit allen verfügbaren Mitteln auf Dauer zu stellen, hat Konsequenzen für die Form des Selbst und seines Lebens.
Sucht und süchtig sein: Die ruinöse Lebensform
Jedem möglichen Rausch entspricht ein zugehöriges Phänomen der Sucht. Sucht hat mit Sehnsucht zu tun: Sehnsucht nach einem Leben ausschließlich auf der Ebene der Möglichkeit, nach Arretierung des Könnens auf der ersten Stufe. Die permanente Suche nach dem Anderen wird schließlich zur Sucht, und sie erfasst den gesamten Menschen: Der Körper gewöhnt sich an die
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