Mit sich selbst befreundet sein
berauschenden Stoffe und kann sie nicht mehr entbehren; die Seele will nur noch die lustvollen Gefühle genießen, die sie für Glück hält; und der Geist vermag keinen anderen Gedanken mehr zu denken als den, wie das Leben der Möglichkeit noch aufrechtzuerhalten, die Wirklichkeit und ihr begrenztes Maß aber zu vermeiden ist. Die natürliche Mäßigung der Lusterfahrung durch gelegentliche Unlust wird auszuschalten versucht, an ihre Stelle tritt die Steigerung der Lust, die einen immer höheren Einsatz erfordert. Die Sucht ist dann die erschöpfende Maßlosigkeit, die zum »Siechtum« führt. Sie wird zu einer Macht im Selbst, die sich der Macht der Reflexion entzieht und eigenständig zu operieren beginnt. Abgründe des Selbst, auch anderer, des Lebens, der Welt lernen Menschen in solcher Situation mehr als andere kennen. In höherem Maße sind sie konfrontiert mit den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Lebens; mit der Brüchigkeit von Werten und der Relativität all dessen, was für fest gehalten wird; mit einer Sinnlosigkeit von Leben und Welt, mit Leid und Tod, die im »normalen« Leben keine Rolle zu spielen scheinen; mit der Erfahrung des Nichts, das aus dem Zerbrechen aller Bindungen und Beziehungen resultiert. Die entstehende Abhängigkeit lässt sich als Herstellung einer starken Bindung verstehen, die Sinn vermittelt und fortan nicht mehr entbehrt werden kann. Sie ist im »Psychischen«, im Seelischen und Geistigen verankert und nur mit größter Mühe wieder zu lösen, während der unmittelbare körperliche »Entzug« nur wenige Tage in Anspruch nimmt.
Sucht gibt es wahrscheinlich in allen Kulturen, aber nicht inallen im selben Maße, auf dieselbe Weise und mit derselben Funktion. In der Moderne sind Süchtige oft die Romantiker einer vormodernen Welt, die der Welt der Moderne wie Fremde gegenüberstehen. Kann es möglich sein, an der Grundstruktur der Moderne irre zu werden, ohne von ihr überhaupt etwas zu wissen? Ein Freiheitsproblem ist die Sucht, insofern sie sich vorzugsweise im Zustand des »Befreitseins« entfaltet. Da in der Moderne nicht mehr klar ist, wie zu leben ist, werden Lebensfragen akut, die Süchtige in ihrer Sensibilität nachdrücklicher als andere stellen. Das Leben zu fühlen und darüber nachzudenken, geschieht schon im Vorfeld der Sucht intensiver als gewöhnlich. Die Sehnsucht nach Tiefe, nach Intensität ist ein Grund der Sucht, die in der Moderne ihre eigene, nicht sehr gut verstandene Geschichte hat (Claudia Wiesemann, Die heimliche Krankheit. Eine Geschichte des Suchtbegriffs , 2000). Mehr als andere fragen die Süchtigen nach dem Eigentlichen der Existenz, nach dem wahren Leben. Kompromissloser als anderen geht es ihnen um Glück und Sinn, und unbedingt erfahren sie Glück und Sinn in ihrer Sucht, wenn auch immer aufs Neue begrenzt, was ihrer romantischen Sehnsucht nach Unbegrenztheit widerspricht. Extreme Ansprüche ans Glück und an die Intaktheit der Verhältnisse, an eine heile, unversehrte Welt ziehen extreme Ängste nach sich, und ein Maß lässt sich weder für die Ansprüche noch für die Ängste finden. Unbedingter als andere zweifeln Süchtige an allem bis zur völligen Verzweiflung. Eine Voraussetzung des Umgangs mit dem Phänomen der Sucht besteht darin, ihre existenziellen Erfahrungen ernst zu nehmen, statt sie an der Norm einer vorgeblichen »Gesundheit« zu messen und vorschnell zu pathologisieren. Therapeutische Bemühungen können scheitern, wenn sie die existenzielle Unruhe eines Menschen zur »Krankheit« erklären, die keinen anderen Weg als den der Heilung mehr offen zu lassen scheint. Wird einem Menschen so sein Eigenstes genommen, wird er möglicherweise eher die Selbsttötung vorziehen, als sich »heilen« zu lassen.
Soweit es um die Frage nach Glück und Sinn geht, entfernen sich Süchtige keineswegs von kulturell vorgegebenen Vorstellungen, verfolgen sie nur ungleich entschiedener. Da in der modernen Kultur diese Vorstellungen mit allen nur denkbaren »positiven« Bestimmungen aufgeladen sind, versuchen sie sich an deren Realisierung, wenngleich mit einer Konsequenz, die an Aggressivität grenzt. Angenehm und lustvoll, voller Sinn, ohne irgendwelchen Schmerz soll das Leben sein, und zwar dauerhaft, ohne »Auszeit«. Da die Brüche, die dennoch geschehen, nicht der Vorstellung von Glück entsprechen, muss mit künstlichen Mitteln nachgeholfen werden. Da die Wirkung der Mittel schnell nachlässt, muss die Dosis gesteigert werden. Ebenso geht
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