Mit sich selbst befreundet sein
verhindert, das Extremsein zur bloßen Sucht werden zu lassen.
Extreme sorgen dafür, über Möglichkeiten der Resonanz auch für ausufernde Schwingungen zu verfügen und die Schwankungsbreite dessen, was als »normales Maß« aufgefasst wird, zu vergrößern. Den Erfahrungen der Askese und Ekstase verdankt das Selbst, »gleichermaßen zum Verzicht wie zum Genuss der Dinge fähig« zu sein, wie Marc Aurel ( Selbstbetrachtungen 1, 16) von Sokrates sagt. Möglich sind dabei interessante Überkreuzungen, wie etwa der asketische Exzess : durch die Übung des Verzichtsund die Einübung einer Verfeinerung den nachfolgenden Genuss zu vervielfachen. Oder die exzessive Asketik : mit dem Verzicht auf vieles und der Reduktion auf eines sich ganz und gar diesem Einen zu widmen und es in höchster Intensität zu erfahren. Statt Widersprüche aufzuheben, werden sie bekräftigt, sodass die Spannung des Lebens erhalten bleibt, die als Sinn erfahrbar ist. Die gesamte Spannweite des Lebens in der Erfahrung von Extremen auszuschöpfen, trägt zu einem Glück bei, das die Fülle des Lebens umfasst. Büßt das Selbst seine Möglichkeiten auszuschwingen aber ein, macht sich der Eindruck schmerzlich bemerkbar, das Leben nicht mehr zu spüren; und geradezu zerbrechen kann es, wenn seine schmal gewordene Eigenfrequenz auf ein weites Ausschwingen des Lebens nicht mehr antworten kann. Wer Extreme stets meidet, verringert den Spielraum, innerhalb dessen Körper, Seele und Geist sich bewegen können. Daher rät Montaigne ( Essais III, 13, »Von der Erfahrung«), Extreme zu suchen und sich nicht ängstlich vor dem Exzess zu hüten; ein junger Mensch solle sogar »öfters über die Stränge schlagen, sonst wirft ihn die kleinste Ausschweifung um«. Vor allem der rauschhafte Exzess eignet sich als Paradigma für die Erfahrung, auf die das Selbst schwerlich verzichten kann, wenn es darum geht, allzu starr gewordene Gewohnheiten wieder aufzubrechen und noch ein anderes Leben in sich zu entdecken.
Von der Bedeutung des Rausches für die Lebenskunst
Rausch ist das durchbrochene Maß, die Erfahrung des Anderen inmitten des Einen, das die eingegrenzte Wirklichkeit des Lebens ist. Je fortgeschrittener die Verfestigung von Wirklichkeit, desto dringlicher das Bedürfnis, aus ihr auszubrechen, um das »wahre Leben« wieder zu spüren. Der Rausch ist eine Erfahrung der Befreiung und eine Art von Regression, der Weg des Könnens rückwärts: Das Selbst lässt jede Exzellenz hinter sich, überschreitet die Grenzen seiner Wirklichkeit und geht »aus sichheraus«, »über sich hinaus«, zurück auf die Ebene grenzenloser Möglichkeit . Jede Auflösung einer Form des Lebens, jeder Übergang von einer Form zur anderen öffnet den Freiraum für rauschhafte Erfahrungen, wie sich stets von neuem in persönlichen wie politischen Situationen des Umbruchs zeigt. Es handelt sich um ein neuerliches Erschließen von Möglichkeiten und Schwelgen in ihnen; überwältigend ist die Erfahrung der »Entgrenzung«, ein Zustand höchster Kreativität, aber das Selbst kennt dabei die Differenz von Schöpfung und Zerstörung nicht mehr. Von der wieder gewonnenen ersten Stufe des Könnens aus werden zuweilen die beiden anderen Könnensstufen zerschlagen, um all das, was zu einer eng gewordenen, wenngleich exzellenten Wirklichkeit geronnen ist, wieder in Möglichkeit überzuführen: destruktives Potenzial des Rausches. Inmitten der zerstörten Form triumphiert das Leben in seiner Transformation, unzerstörbar mächtig und lustvoll; der Mensch begreift es im Rausch.
Dass mit dem Rausch der Raum der Möglichkeiten sich wieder auftut, der Raum der Unbegrenztheit anstelle von Begrenztheit, der Unendlichkeit anstelle von Endlichkeit: Darin liegt seine Unverzichtbarkeit. Daher ist der Rausch ein verlässliches Phänomen in der Menschheitsgeschichte: So weit das Auge reicht, torkeln Betrunkene durch sie. Und er ist erfahrbar auf allen Ebenen des Menschseins: körperlich, seelisch, geistig, metaphysisch. Analog zu den Gefühlen ist auch hier keine Armut zu befürchten; vielmehr kündet die reiche Palette der Möglichkeiten von der Bedeutsamkeit des Rausches, denn es gibt ihn in Verbindung mit Lust, Schmerz, Zärtlichkeit, Zorn, Hass, Liebe, Sex, Alkohol, Nikotin, Koffein, Drogen, Rhythmus, Lärm, Licht, Tanz, Bewegung, Geschwindigkeit, Ruhe, Meditation, Gespräch, Spiel, Traum, Reflexion, Religion, Schreiben, Lesen, Arbeiten, Kaufen, Höhe, Weite, Nation, Macht, Gewalt, Streit, Harmonie.
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