Mit sich selbst befreundet sein
es darum, mit aller Macht nach Sinn zu streben, der in der modernen Kultur nicht mehr offen zutage liegt. Da die Arbeit, dem Leben durch eigene Deutung und Interpretation Sinn zu geben, nie erlernt wurde oder aber ausgesetzt worden ist, wird an ihre Stelle der Sinn gesetzt, den die Sucht vermittelt. Insofern Sinn darin besteht, Beziehungen zwischen unzusammenhängenden Bestandteilen und auseinander strebenden Erfahrungen des Lebens zu knüpfen, wird allerdings ein fataler Sinn daraus, sobald einer Sucht die Sinnstiftung zugestanden wird, die letztlich jeglichen Zusammenhang auflöst. Die große Frage aller Sinnstiftung, wie eine Beziehung zur Unendlichkeit über die Begrenztheit der Endlichkeit hinaus zu finden sei, wird nur im Rauschzustand beantwortet und kann außerhalb dieses Zustandes das Selbst in keiner Weise befriedigen, nur weiter beunruhigen.
Grundsätzlich ist Süchtigsein eine mögliche Lebensform, eine ungewöhnliche, aber zweifellos mögliche Variante der Lebenskunst: das eigene Leben ruinieren zu können. Es kann in der Sucht ernsthaft darum gehen, das begrenzte Leben unmöglich zu machen. Dies anzuerkennen, ermöglicht erst die Erörterung von Gründen, die dafür sprechen könnten, es auch möglich zu machen. Grundlegend dafür ist jedoch die Wahl, als deren implizite Form bereits die Sucht selbst gelten muss. Alkohol, Nikotin,Kokain: Eine aktive Wahl, süchtig zu werden, wird zwar selten getroffen, und die passive Wahl , das Hineingleiten in die Sucht geschehen zu lassen, ist meist als solche nicht bewusst, also implizit. Das ändert jedoch nichts an den Konsequenzen und daran, dass diese primär vom Selbst zu tragen sind, mögen andere auch mit betroffen sein. Um der Lebenskunst als bewusster Lebensführung willen bedürfte es noch einer bewusst , also explizit getroffenen Wahl, die ausschließen könnte, dass unerwünscht und wider Willen etwas geschieht, dessen Konsequenzen das Selbst nicht zu tragen vermag. Dazu zählen übergroße Schmerzen, die es sich selbst, aber auch anderen im Verlauf der Sucht zufügt; erst recht der Verlust der Selbstachtung, der damit verbunden sein kann, über sich selbst nicht mehr verfügen zu können.
Wird die Wahl getroffen, das Leben trotz all seiner Begrenztheit möglich zu machen, steht die wirkliche Lebbarkeit in Frage. Sie könnte die existenzielle Erfahrung der Sucht bewahren, die wertvoll ist, da das gewöhnlich an der Oberfläche gelebte Leben dadurch an Tiefe gewinnt. Sie müsste nicht auf eine Negation der gemachten Erfahrungen zielen und auch nicht unbedingt darauf, die Sucht »loszuwerden«, sondern sie nicht ruinös werden zu lassen; dazu aber ist es erforderlich, eine Oberfläche herzustellen, die die Tiefe zu leben erlaubt, erneut die Aufgabe einer pragmatischen Romantik. Eine neuerliche Einrichtung des Lebens in all seiner alltäglichen Banalität und widersprüchlichen Polarität trägt dem Rechnung. Soll es um eine Entwöhnung von der Sucht gehen, ist ein entscheidendes Problem die Entwöhnung von der jeweiligen Gewohnheit, denn die Sucht war der Versuch, eine starke Bindung durch Gewöhnung, und sei sie ruinös, herzustellen. Da Gewohnheiten wesentlich fürs Leben sind, kommt es darauf an, sie neu und anders ins Werk zu setzen. Grundlegend für alle Lebbarkeit ist jedoch die Übernahme der Selbstsorge , denn auch die Fürsorge anderer wird nur in dem Maße frei, in dem die Selbstsorge spürbar ist. Einfache Übungender körperlichen Asketik stärken die Selbstmächtigkeit und führen zu einer Festigung des Selbst, um das frei flottierende »Fremde« im Selbst, das Macht für sich allein beansprucht, auf definierte Weise ins Selbst einzugliedern: So kann es gelingen, mit der Selbstformung eine Form der Freiheit zu begründen und Selbstbefreundung zu erreichen, statt im Zustand des Befreitseins von allen Bindungen zu verharren und die Bindung an die Sucht allein zu bewahren. Vor allem aber bedarf die Lebbarkeit einer Orientierung am Schönen : Ausgehend davon, dass der Süchtige das Schöne, Bejahenswerte umstandslos mit dem Objekt seines Begehrens identifiziert, kommt es darauf an, mit ihm vom unreflektierten Alltagsbegriff zum Reflexionsbegriff des Schönen zu gelangen und die gesamte Fülle des möglichen Schönen zu erschließen; über die schönen Lüste der Sucht hinaus auch andere Lüste bereitzustellen und das Selbst zugleich auf die Situation der Unlust vorzubereiten, die der Erholung der Lüste von sich selbst dient. Um schließlich den
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