Mit sich selbst befreundet sein
Übertreibung und Untertreibung ist das Maß erst zu finden, das als das angemessene erscheint. Zu keinem Zeitpunkt ist dieser Prozess abgeschlossen, immer bleibt er eine Pendelbewegung, denn das Leben selbst würde sonst am Ende sein. Sinnvoll erscheint, die Extreme nicht zu scheuen, sie gelegentlich sogar aus freien Stücken selbst zu suchen, um der Polarität des Lebens entgegenzukommen. Lüste bieten dafür ein exemplarisches Übungsfeld: sie sich zuweilen zu versagen, nur um sich in Selbstmächtigkeit zu erproben; sie aber nicht stets zu meiden, um nicht der Gefahr, so Aristoteles, der Stumpfsinnigkeit zu unterliegen.
Ein Problem des Lebens in moderner Zeit besteht darin, nicht mehr eingebettet zu sein in ein kulturell vorgegebenes Maß etwa der Lüste des Essens, Trinkens, Liebens. So wird es für das Selbstzur Arbeit, sein Maß zwischen Zuviel und Zuwenig selbst zu finden. Das Maß, um das es in seiner Lebenskunst geht, steht nicht von vornherein fest; es kann, je nach Situation, auch ein Übermaß oder Untermaß damit gemeint sein: Das Optimum liegt zuweilen im Minimum oder aber im Maximum . Die beiden Grundhaltungen, Extreme grundsätzlich zu lieben oder sie zu fliehen, extremophil , extremophob , sind Optionen der Lebenskunst; allerdings lässt sich die Verausgabung, die das extreme Übermaß liebt, kaum auf Dauer leben – sie bedarf des Atemholens, das eher im Verzicht geschieht. Ebenso wenig lebbar ist wiederum die Leidenschaftslosigkeit, die jedes Übermaß flieht – sie bedarf der gelegentlichen Belebung in einer Aufwallung. Ein Gleichmaß , das durch die Zeit hindurch bestehen bliebe, wie dies in der stoischen Philosophie einst erstrebt wurde, ist nur als Mittelmaß vorstellbar, das jedoch in Gefahr steht, langweilig zu werden, sofern es überhaupt zu bewahren ist. Verzichtbar ist es dennoch nicht, nämlich als Vorstellung, durch die Über- und Untermaß als solche überhaupt erst messbar werden. Alles aber, was im Über-oder Untermaß betrieben wird, erreicht früher oder später von selbst einen Grad an Sättigung oder Mangel, an dem es in sein Gegenteil umschlägt, und je extremer das Über- oder Untermaß, desto heftiger der Umschlag. Auch das kann ein Grund dafür sein, Extreme zu suchen: Die Verhältnisse zum Umschlag zu bringen. Vom Übermaß als Heilmittel spricht Nietzsche ( Menschliches, Allzumenschliches , »Vermischte Meinungen und Sprüche«, 365) und sieht darin eine mögliche Verfahrensweise der Lebenskunst: »Man kann sich seine eigene Begabung dadurch wieder schmackhaft machen, dass man längere Zeit die entgegengesetzte übermäßig verehrt und genießt. Das Übermaß als Heilmittel zu gebrauchen ist einer der feineren Griffe in der Lebenskunst.«
Ein Grund für den Kult der Extreme , wie er im Extremsport gepflegt wird, ist zweifellos die moderne Grundsituation der Befreiung von jedem Maß im Umgang mit sich selbst, das traditionell, konventionell, religiös oder von Natur aus vorgegebenwar: In der extremen Erfahrung hofft das Selbst durch Grenzüberschreitung eine Grenze für sich zu finden, auch die Grenze des Todes wieder zu spüren, die dem Leben ein Maß zu geben vermag, in der modernen Kultur jedoch außer Blick geraten ist. Die Sehnsucht nach einem autonomen Maß und die immense Sehnsucht, über jedes vorgegebene, heteronome Maß hinauszugelangen, wird im Bedürfnis nach Extremen erkennbar; auch eine unstillbare Sehnsucht nach Überschreitung, nach »Transzendenz« wird fühlbar, die sich in der säkularisierten Welt anders nicht zu helfen weiß. Handelt es sich bei diesem Kult der Extreme nicht um »klinische Pathologien«, um »lebensgefährliche Idiotien«? Aber dies als krank oder unmoralisch abzutun, lässt den Anteil moderner Kultur daran außer Betracht und rekurriert auf den Wertekanon vormoderner Verhältnisse, der in der Praxis unwirksam ist. Leid, Unglück, Tod entsteht auf diese Weise? Aber es entsteht auch auf andere Weise und ist von Grund auf nicht aus der Welt zu schaffen. Mag dies als »Indifferenz« oder »Wertneutralität« erscheinen, aber Extreme liegen nun mal im Rahmen der Wahlmöglichkeiten moderner Menschen, die dafür niemandem Rechenschaft schuldig sind. Problematisch daran erscheint lediglich, eine Maximierung der Lust am extremen Punkt arretieren zu wollen, um sodann extrem darunter zu leiden, dass sich dies als unmöglich erweist. Allein das Gespür für das Maß, das sich aus der Erfahrung des Zuviel und Zuwenig heraus erst entwickelt,
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