Mit sich selbst befreundet sein
sobald die tanzenden Beine vom Boden der Realität abheben und eintauchen in eine andere: Trunkenheit der Wirklichkeit.
Wo befindet sich jetzt gerade welches Körperteil? Das herrliche Empfinden der fließenden Bewegung nur für sich, der rhythmischen Bewegung mit dem anderen steigert sich zum Rausch, zum »süßen Traum des Vergessens«: Aus dem Körper, der zuckt, entschwindet das Subjekt, das denkt. In seinem Fühlen ist das Selbst »ganz bei sich« und zugleich weit außerhalb, es fühlt das Leben weit über sein eigenes hinaus; alles ist reine Gegenwart, kein Gedanke an Vergangenes, keiner an Künftiges mehr: Was für ein glückliches Gefühl der Weite und Erfüllung, was für eine wohltuende Verausgabung des Selbst, auch wenn es außer Atem gerät und die Beine schmerzen! Sich selbst und andere ganz anders als gewöhnlich kennen zu lernen, das bewirkt der Tanz; unwichtig, welche Art von Tanz das ist, ob das Selbst nur für sich allein tanzt oder mit anderen. Im Rhythmus beginnt das Selbst, sich intensiver zu spüren und in Relation zum anderen zu erfahren. Tanz ist eine Strukturierung, die dem Leben und Zusammenleben Gestalt gibt. Der gemeinsame Tanz aber wird zurKunst der Berührung, die zugleich eine Berührung seiner selbst ist, denn von der Berührung anderer wird das Selbst wiederum berührt; daher die Freude so vieler Tänzer am Tangieren des anderen, am Tango , lateinisch für: »ich berühre, ich betaste, ich fasse an«, zurückgehend wohl auf das griechische thingáno . Tanzend lässt sich über das cartesianische cogito, ergo sum hinaus diese andere Formel des Menschseins realisieren: Tango, ergo sum – »ich berühre, also bin ich«.
Exemplarisch steht der Tanz für den Weg zur Selbstmächtigkeit : Mit einer ersten asketischen Einübung erarbeitet das Selbst sich eine neue Möglichkeit der Verfügung über sich, mit einiger Praxis wird die Möglichkeit zur Wirklichkeit , mit häufiger Praxis lässt sich Exzellenz erlangen. Besänftigend, regulierend, balancierend wirkt der Tanz auf die inneren Verhältnisse des Selbst, und in der Balance des Körpers findet auch die Seele zu ihrem Gleichgewicht. So wie die innere Bewegung zur äußeren wird, wirkt die äußere wiederum auf die innere zurück: Tanzt der Körper, gerät tatsächlich die Seele in Bewegung, zeigt Markus sich jetzt überzeugt. Was erstarrt ist, bringt der Tanz in Fluss, selbst Gefühle setzt er frei und gibt ihnen im Ausdruck Gestalt: Die Traurigkeit, die wie ein Kloß im Hals festsitzt, wird in ihm ausgelebt und löst sich auf; der Zorn wird in der Bewegung zerstreut. Die angespannten Verhältnisse zwischen inneren Mächten entspannen sich, und die neu gewonnene Selbstmächtigkeit kann nach außen hin in Erscheinung treten. Endlich erfasst die Bewegung auch das Gehirn, und die Gedanken beginnen zu tanzen. Der Geist, der nicht mehr angestrengt nachdenkt, sondern Erholung genießt, hat vom Tanz den größten Gewinn. Das ist wohl der Grund dafür, dass Nietzsche so versessen darauf war, tanzen zu lernen: »Tanz nämlich ist sein Ideal« ( Fröhliche Wissenschaft , 381), das Ideal nämlich des Philosophen, der die Realität nur mit Fußspitzen berührt. Der einzige Fehler ist vielleicht, gleich im Geist damit zu beginnen.
Das richtige Maß: Extreme meiden oder suchen?
Höhen und Tiefen durchmisst der Gesang, widersprüchliche Bewegungen vereint der Tanz. Aber das ganze Leben ist ein Tanz: Wie sonst sollte die Kunst zu beschreiben sein, eine Balance zwischen Gegensätzen zu finden, erst recht solchen, die extrem auseinander liegen, höchster Grad und tiefster Punkt, und das richtige Maß in allem zu treffen? Zu starke, zu geringe Beanspruchung des Körpers, ausufernde oder ausgedörrte Gefühle, zu viele oder zu wenige Gedanken: Wie schwierig es ist, das Maß zu treffen, erweist sich daran, dass es stets aufs Neue verfehlt wird, wenngleich meist nach wechselnden Seiten hin. In seinen Versuchen, das richtige Maß zu treffen, erinnert das Selbst an einen Betrunkenen, der mal links, mal rechts in den Straßengraben fällt, sich auf diese Weise aber ungefähr in der Mitte der Straße hält. Oder, wie Aristoteles, der Denker des Maßes, nüchtern meint: Es sei unvermeidlich, »gelegentlich nach der Seite des Zuviel, dann nach der des Zuwenig auszubiegen, denn so werden wir am leichtesten die Mitte und das Richtige treffen« ( Nikomachische Ethik , Buch 2). Im Wanken zwischen »Übermaß« ( hyperbolē ) und »Untermaß« ( élleipsis ),
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