Mit sich selbst befreundet sein
Gedanken zu denken, dass zum Schönen Schmerzliches gehören kann, und dass dies auch für den metaphysischen Schmerz gilt, der die Endlichkeit des Menschseins berührt; dass letzten Endes ein Darüberhinaus , das in der Moderne so schmerzlich vermisst wird, eine Frage des eigenen Fühlens und Denkens ist. Das Gefühl der Einsamkeit, das dann noch bleibt, gewinnt eine andere Qualität, auch unabhängig von jeder Sucht.
Vom Recht, mit sich allein zu sein. Einsamkeit als Lebenskunst
Einsamkeit hat zwei Gesichter. In der Moderne resultieren beide aus der Freiheit, die als Befreiung verstanden wird, Einsamkeit aufgrund von Freiheit, aber auf unterschiedliche Weise: Als ungewolltes Alleinsein , das im selben Maße um sich greift, in dem die Befreiung sich ihrem Kulminationspunkt nähert, der das völlige Freisein voneinander, die Auflösung sämtlicher Bindungen zwischen Menschen bedeutet – endlich frei, und daher einsam. Als gewolltes Alleinsein , das sich auf andere Weise der Errungenschaft verdankt, »Beziehungszwängen« nicht mehr zu unterliegen und sich zumindest zeitweilig davon frei machen zu können – endlich einsam, und daher frei. Lebenskunst zielt auf die Freiheit der gewählten Einsamkeit, die anders als das ungewollte Alleinsein den erhofften Rückzug auf sich und ein Wiederfinden des Selbst in sich birgt, mit einem Gefühl der Geborgenheit, das der Ungeborgenheit der Vereinsamung widerspricht. Die Einsamkeit als Lebenskunst zu verstehen heißt jedoch auch, Sorge dafür zu tragen, nicht unbemerkt vom gewollten ins ungewollte Alleinsein abzugleiten, damit, was das Selbst sich ursprünglich ersehnte, nicht unverhofft zu einer schrecklichen Erfahrung wird: vom Glück zum Elend der Einsamkeit.
Dass jedes Selbst ein Recht auf Alleinsein geltend machen kann, ist eine Errungenschaft der Moderne, während es in vor- und nichtmodernen Kulturen räumlich schwierig und gesellschaftlich wenig opportun ist, mit sich allein zu sein. Die Festschreibung des Rechts kam zustande, weil Individuen sich wechselseitig diesen Freiraum zugestehen wollten; daher der juridische Schutz der Privatsphäre, um keinen Übergriff anderer auf diesen Raum befürchten zu müssen, wenn es aber doch dazu kommt, dessen Schutz einklagen zu können. Gleichwohl ist umstritten, ob der »Rückzug in die Nische des Privaten« statthaft ist, denn ein »Verlust des Politischen« als Folge der gewählten Einsamkeit wird befürchtet. Zur Norm kann das Politischsein aber nicht werden; wird es ultimativ eingefordert, droht ein Terror des Politischen. Abgesehen davon, dass der Rückzug in jedem Fall eine Option für diejenigen ist, die eben nicht im expliziten Sinne »politisch« sein wollen, kann er auch geboten sein: Denn nur in der Nische lassen sich die Kräfte schöpfen, die es ermöglichen, wieder in den gesellschaftlichen und politischen Raum »hinauszugehen«. Sich zurückziehen zu können, nicht immer »dabei sein« zu müssen, ist daher eine veritable Option der Lebenskunst; daraus folgt eine vorsätzliche Arbeit an der Nische, deren Ausgestaltungfür die Möglichkeit des Rückzugs, räumlich und zeitlich, mit Liebe und Hingabe. Vor allem mit Gewohnheiten ist die Nische auszustaffieren, um diejenige Falte im Gewebe der Welt zu finden und zu bilden, in der das Selbst für einen Moment oder auch für längere Zeit verschwinden kann.
In der Privatsphäre kann sich die seelische Sorge des Selbst entfalten, in ihr vermag es für die Sphäre zu sorgen, die seinen Seelenraum prägt. Während im Zusammensein mit anderen die Seele verausgabt wird, sammelt sie sich im Alleinsein des Selbst mit sich. Um ein Alleinsein handelt es sich dabei lediglich in Relation zu anderen, in der Relation des Selbst zu sich ist die Zeit der Einsamkeit jedoch eine des geselligen Beisammenseins mit sich. Als solches kann es, analog zum Zusammensein mit anderen, freilich extrem gegensätzliche Gestalt annehmen: Selbstfreundschaft wie auch Selbstfeindschaft. Welche Kämpfe ein Selbst mit sich auch im gewollten Alleinsein auszutragen hat, erfuhr bereits Antonius, aufgezeichnet von Athanasius in den Versuchungen des heiligen Antonius und seither in endloser Folge nacherlebt und nacherzählt. Etwa 275 n. Chr. zog der Begründer des abendländischen Mönchtums sich in die ägyptische Wüste zurück und gelangte in absoluter Einsamkeit zur vollkommenen Herrschaft über seine Triebe und Begierden. Welche Befreundung hingegen mit sich möglich ist, erzählt auf nicht minder
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