Mit sich selbst befreundet sein
Vernetzung die Heilung einer Erkrankung bewirken könnte, sehr wohl aber kann sie deren Folgen mildern: Schädigungen neuronaler Funktionen etwa durch Alzheimer-Plaques können offenkundig bis zu einem gewissen Grad »überbrückt« werden. Voraussetzung dafür ist die individuelle Sorge, abhängig vom erweiterten Bewusstsein, sich um vielfältige Vernetzungen zu bemühen und nicht mit vereinzelten Spezialisierungen des Denkens sich zufrieden zu geben. Von der »geistigen Sorge um das eigene Leben bestimmt« sein zu können: darin liegt für Damasio die Errungenschaft der bewussten Lebensführung eines Selbst im Unterschied zu seiner angeborenen biologischen Lebensfähigkeit.
Die geistige Leistung, neuronal verankert, ist eine doppelte: sich Vorstellungen zu bilden vom Gegebenen des Körpers, der Seele, des Geistes selbst, des engeren und weiteren sozialen undökologischen Umfeldes, der »Welt«. Ist die individuelle Repräsentation und Verknüpfung des Wirklichen bereits eine kreative Leistung (denn es handelt sich nicht um eine bloße Abbildung), so erst recht, sich Vorstellungen zu machen vom Möglichen , eine andere Wirklichkeit zu entwerfen, eine künftige Realität im Voraus zu bedenken. Kreativität ist so gesehen das Experimentieren mit anderen und neuen Verknüpfungen, anderen als den bereits gegebenen neuronalen Mustern. Sie ist weit mehr als nur ein interessantes Spiel, denn gerade unter schwierigen und bedrohlichen Bedingungen des Lebens trägt sie wesentlich zu seiner Erhaltung und Gestaltung bei. Salim, der unter schrecklichen Bedingungen lebte, war neurologisch gesehen in der Lage, mit kreativen Verknüpfungen das neuronale Muster zu finden, das ihm ein Überleben ermöglichte. Das Leiden setzt Überlebenschancen frei, sofern es zum Anlass für neuronale Veränderungen genommen wird, zu denen unter angenehmeren Bedingungen kaum ein Anreiz besteht. Daher wohl auch die Rede vom »Leidensdruck«, der erst zu Veränderungen befähigt. Allerdings ist die Kreativität, die dann entfaltet wird, nicht von vornherein schon irgendworauf gerichtet; daher kann die Macht des Geistes, die sich in ihr manifestiert, eine destruktive und inhumane ebenso wie eine konstruktive und humane sein. So sehr ein Zurückdrängen der »negativen« Seite wünschenswert erscheint – ihr gänzlicher Ausschluss kann kaum gelingen, ohne die Kreativität selbst in Frage zu stellen. Deren Nutzen für das Selbst liegt offenkundig darin, auf immer wieder andere und überraschende Weise das Leben führen und Schwierigkeiten bewältigen zu können. Auf diese Weise scheint sie von Nutzen auch für den Menschen als Gattung zu sein, denn anders als mit ihrer Hilfe wäre die Ausbreitung des Tieres Mensch auf dem Planeten kaum zu erklären.
Um im Hinblick auf das Gegebene wie das Mögliche zur bewussten Lebensführung in der Lage zu sein, bedarf das Selbst jedoch des Geistes nicht nur im Sinne des Verstandes, sondernauch der Gefühle: Beide sind konstitutive Bestandteile des erweiterten Bewusstseins, das einerseits vom Gedankenstrom und Sprachfluss, andererseits von einem Strom unbewusster Emotionen und bewusster Gefühle bestimmt ist. Mit der Verbindung von Verstand und Gefühlen erst kann die Klugheit entstehen, die so umsichtig wie möglich Realität repräsentiert, so umfangreich wie möglich Kreativität entfaltet, und weder das eine noch das andere zu irgendeinem Zeitpunkt für einen abgeschlossenen Prozess hält; mit deren Hilfe das Selbst vielmehr immer aufs Neue prüft und lernt, versucht und experimentiert, plant und vorsorgt. Sämtliche Empfindungen fließen wortlos in diesen Prozess ein; sie sind unverzichtbar, um Dinge, Situationen und Personen zu beurteilen: Ohne diese Informationen stünde dem Selbst nur der logisch operierende Verstand ohne jede Sensibilität zur Verfügung. Umgekehrt würden ohne Beteiligung des Verstandes nur Gefühle toben, deren Intensität und schneller Wechsel kein überlegtes, umsichtiges Verhalten und Handeln mehr erlaubte. Die Klugheit ist abhängig von einer Beteiligung sowohl der Gefühle und Empfindungen als auch des nüchternen, besonnenen Denkens im jeweils richtigen Maß, um so gefühlvoll wie überlegt Rücksicht, Umsicht, Vorsicht und Voraussicht praktizieren zu können.
Schon dem antiken griechischen Denken erschien phrónēsis , die Klugheit, als zentrale Leistung des menschlichen Geistes, ursprünglich verbunden mit der Vorstellung, »untere« und »obere« Vermögen des Menschen würden
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