Mit sich selbst befreundet sein
Schilder bei sich.
Überzeugend an der Dummheit ist, zu welchen Anstrengungen der Intelligenz Menschen in der Auseinandersetzung mit ihr fähig sind. In den performativen Selbstwiderspruch, etwas zu behaupten und zugleich zu unterlaufen, gerät dabei der, der auf höchst intelligente Weise das Loblied der Dummheit singt (Erasmus von Rotterdam, Laus stultitiae , 1511): Die geistreiche, kenntnisreiche Plauderei über sie lacht jeder Dummheit Hohn. Die Anstrengungen der Intelligenz vor Augen, sollte die Dummheit vielleicht sogar noch ganz anders als durch Hymnen in ihr Recht gesetzt werden, um der alten Vermutung neue Nahrung zu geben: »dumm, aber glücklich«. Die Sache hat nur einen Haken: Eine von 1932 bis 2002 unternommene englische Langzeitstudie an mehr als zweitausend Probanden hat das klare Resultat erbracht, dass intelligente Menschen länger leben. Was bleibt, ist also die übliche Tragik des Lebens: Legt das Selbst Wert auf Dummheit, verkürzt es sein Leben. Will es länger leben, kommt es nicht umhin, auch mal auf eine Dummheit zu verzichten, auch wenn es schwer fällt. Wünschenswert wäre zu wissen, wann es an der Zeit ist, mal der Klugheit, mal der Dummheit Raum zu geben. Dazu aber bedürfte das Selbst eines Gespürs.
Erfahrung und Besinnung, Ausarbeitung des Gespürs
Auf das Gespür ist das Selbst ohnehin existenziell angewiesen. Denn nicht wirklich lässt sich das Leben immer in voller Bewusstheit leben, um zuletzt noch die unbewusste Dummheit bewusst gewähren zu lassen. Das Gespür, nicht bewusst, nicht unbewusst, vielmehr unterbewusst und halb bewusst, ist in der Lage, eine Vielzahl von Aspekten und Zusammenhängen zu erfassen, ja mehr noch: sie in ihrem Zusammenwirken zu sehenund vorauszusehen, und dies, wenn es Not tut, in einem einzigen Moment – um die einzig richtige Wahl nahe zu legen, die das Selbst treffen sollte. Das Gespür besteht darin, Spuren , Indizien, Hinweise, Zeichen aufzunehmen, ihren Grund auszumachen und ihren Weg zu verfolgen: Spuren im Selbst , seinem Fühlen und Denken, Spuren in der Welt , zwischen Selbst und Welt, Selbst und anderen, Spuren in anderen , in Wesen und Dingen. Ob die Linien konvergieren oder divergieren, kooperieren oder konfligieren, parallel laufen, ohne sich zu berühren, frontal aufeinander zulaufen oder Gefahr laufen, sich aufzulösen: Welche Entwicklung in inneren oder äußeren Verhältnissen angelegt ist, lässt sich frühzeitig erspüren ; eine Reaktion darauf ist möglich, auch wenn sie schwierig ist, wenn die Spuren sich schon zu tief eingegraben haben. Oft wird der wirkliche oder mögliche Verlauf von Spuren auch in Traumbildern durchgespielt – eine Projektion, aus der keineswegs folgt, dass die wirklichen Verhältnisse den Träumen entsprechen: Ob die Spuren richtig erfasst und ihre Zusammenhänge richtig gedeutet werden, ob eine Hochrechnung aus den Indizien stichhaltig ist, erweist sich erst im Nachhinein. Auch Indizien können trügen.
Alle Klugheit hängt jedoch ab vom Gespür, das dafür sorgt, dass sie mehr sein kann als eine bloß kognitive Intelligenz. Ihre Sensibilität geht aus dem Spürsinn hervor, der im Selbstgespür, dem Gespür für sich, für andere, für Dinge, für Situationen, für Sprache und selbst für Werte wie etwa Freiheit und Gerechtigkeit zum Vorscheint kommt. Jeder Aspekt der bewussten Lebensführung bedarf im Grunde eines eigenen Gespürs : soziales Gespür, Gespür für Lüste und ihr Maß, Gespür für Zeit, für die unscheinbaren Kleinigkeiten, die so große Bedeutung haben, und für vieles mehr; nie aber ist das Gespür in allen Aspekten in gleichem Maße zu erreichen. Auch jede Tätigkeit und Berufsausübung verlangt ein je spezifisches Gespür: Das Gespür des Gärtners ist ein anderes als das des Telefonisten oder des Schreiners, das des Lehrers ein anderes als das des Mediziners oder desRichters. Und wie lässt sich das jeweilige Gespür und das Gespür im Ganzen erreichen?
Die Anlage zum Gespür dürfte angeboren sein, die bewusste Ausbildung und Einübung aber geschieht durch Erfahrung und ihre Reflexion. Zuallererst ist das Gespür eine Frage der Erfahrung , dessen also, was dem Individuum im praktischen Lebensvollzug begegnet und widerfährt. Das lässt sich an Menschen beobachten, denen »viel Gespür« nachgesagt wird: Sie sind reich an Erfahrung , ihrer eigenen wie der von anderen, für die sie sich interessieren. Das Selbst kann umso mehr auf sein Gespür vertrauen, je mehr Erfahrung es mit ihm
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