Mit sich selbst befreundet sein
vom befürchteten Tod des Buches, eher vom Problem der extensiven Art des Lesens sprechen, denn das bloße Aufnehmen und Verarbeiten von Zeichen, das nicht mehr als Arbeit an sich selbst verstanden wird, ist keineswegs ans Buch gebunden. In jedem Fall bleibt offen, ob und wie eine subjektive Art des Lesens, eine neuerliche existenzielle Lektüre wieder gewonnen werden kann, bei der das Selbst eine innige Beziehung zum geschriebenen Text eingeht. Welche Bedeutung dessen sinnlich-geistige Berührung hat und ob diese in der visuell-virtuellen Welt elektronischer Medien ersetzbar oder unverzichtbar ist, lässt sich am besten experimentell in Erfahrung bringen: Jedes Selbst kann die Probe darauf machen und Schlüsse für sich daraus ziehen. Gerade in der Zeit seiner Infragestellung kann das Lesen, und vielleicht auch das laute Lesen, wieder zur unerhörten Erfahrung werden. Und erneut braucht man, wie Foucault sagt, »um zu träumen, nicht mehr die Augen zu schließen, man muss lesen« (Nachwort, 1966, zu Gustave Flaubert, Die Versuchung des heiligen Antonius , 1874).
Dem Absurden begegnen. Von der Macht des Geistes
Das Lesen führt in fremde, ferne Welten. Die Macht des Geistes, dessen Material die Buchstaben sind, macht sie vorstellbar, lässt das eigene Leben in anderem Licht erscheinen. Unvorstellbar aber ist eigentlich die Situation, in der Salim lebt, dessen einzige Hoffnung darin besteht, »für eine lange und ewige Minute einen Lichtstrahl zu erhaschen«. Keineswegs ist Salim blind, obwohl er sich dessen nicht sicher sein kann, denn er hat keine Möglichkeit mehr, es in Erfahrung zu bringen. Salim lebt in einem Grab, in ewiger Nacht, in einem Erdloch, das ihm gerade noch genug Platz zum Atmen lässt. Die Nacht, die keinen Tag mehr kennt, wird zu seiner Welt, nicht nur im Umfeld seiner selbst, sondern auch inmitten seines Seins, das nunmehr Nacht ist. Ohne Sterne. Ohne jeden Fixstern. Ein Leben in »äußerster Entsagung«. DieLuft ist feucht, es riecht verschimmelt, es stinkt nach Urin. Die Haut ist unter einer Dreckschicht verschwunden, die nur ertastet werden kann. Wenn Salim langgestreckt am Boden liegt, mit dem Gesicht nach unten, drückt er die Stirn auf den Steinboden, um sie kühlen zu lassen und sich ein wenig zu spüren. Ansonsten ist die ganze Anlage so erdacht, dass er leiden muss, dass das Leiden endlos in die Länge gezogen wird, dass das Leben gerade noch erhalten wird, um möglichst lange Leiden zu bleiben; ein Entzug der Existenz bei lebendigem Leib. Wer hat sich das ausgedacht?
Salim hat an einem Putsch gegen den König teilgenommen. Er war Soldat, 20 Jahre alt, und seine Vorgesetzten hatten diesen Aufstand geplant, dessen Ausführung blutig scheiterte. Unterschiedslos wurden Tote und Verwundete auf einen Lastwagen geworfen und abtransportiert. Die Phantasie einiger kreativer Köpfe blühte, um bis ins architektonische, medizinische, psychologische Detail hinein die perfideste Strafe zu ersinnen. Herkömmliche Gefängnisse eigneten sich dafür nicht, ein neues musste gebaut werden, kein Gefängnis, ein Kerker, unterirdisch im Nirgendwo der Wüste. Jede Zelle drei Meter lang, anderthalb Meter breit und hoch: unmöglich, aufrecht zu stehen; der aufrechte Gang ist denjenigen vorbehalten, die sich dem Herrscher beugen. In ein Loch in der Ecke fallen die Exkremente, von einem verborgenen Loch in der Decke her weht etwas frische Luft, kein Blick ins Freie. Zur Macht des Geistes gehört die Konzeption und Realisierung solcher Demütigungen, unmenschlicher Verletzungen, bestialischer Entwürdigungen. Jetzt aber kann Salim davon erzählen, und Tahar Ben Jelloun verleiht der Erzählung alle arabische und französische Wortmächtigkeit, deren er fähig ist, um das Unsagbare zu sagen: Das Schweigen des Lichts (2001). Der Roman beruht auf dem Bericht eines Überlebenden, der 1971 am Putsch gegen den marokkanischen König Hassan II. teilnahm. 1991 gab die Regierung Marokkos dem internationalen Druck nach und schloss das geheime StraflagerTazmamart im Süden des Landes.
Der Bericht ist ein Dokument für die Macht des Geistes in noch ganz anderem Sinne. Denn Salim beschließt, die Tortur als »Übung« und »Prüfung« zu begreifen, würde sie auch in den Tod münden. Leben zu können, das ist nun abhängig davon, sich gänzlich aufs reine Denken zurückzuziehen, allen Sinnen zu entsagen, die dem Selbst nur Übelkeit, Schmerz und Leid zu vermitteln vermögen und damit seine Existenz verunmöglichen. Der
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