Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
Vom Netzwerk:
Lebensinstinkt ist bereits zerstört, auf ihn lässt sich nicht länger setzen. »Sehr schnell entschied ich mich, mir mit allen Mitteln meinen Geist, das Bewusstsein zu bewahren.« Ohne je davon gehört zu haben, stellt Salim das cartesianische Experiment aus dem 17. Jahrhundert noch einmal an, jedoch nicht in gedachter, sondern in wirklich gelebter Form: »ein von allem losgelöstes Denken«, Loslösung vor allem von jeder Körperlichkeit und Sinnlichkeit. »Ich litt so große Schmerzen, so heftige Qualen, dass ich mich langsam aus meinem Körper herauslöste und mir beim Kampf gegen die Skorpione in der Grube zusah. Ich stand darüber. Ich war auf der anderen Seite der Nacht.« Das Denken allein bleibt übrig und muss gestärkt werden durch gedachte und gesprochene Worte, durch rezitierte Gedichte, memorierte Geschichten, erfundene Erzählungen. Eine »absolute und furchtbare Klarsicht« soll das Denken erlangen, keine Illusionen hegen, keine Hoffnungen, die tödlich sein können, da Enttäuschungen das Selbst letztlich in Verzweiflung stürzen.
    Unwillkürlich kommen dem Leser die Versuchungen des heiligen Antonius in der ägyptischen Wüste wieder in den Sinn, der allerdings willentlich den Kampf mit der »Hölle« aufnahm. Denn die Hölle, das sind nicht wirklich »die anderen«, sondern die inneren Dämonen und Chimären des Selbst. Salim gerät unwillentlich in diese Situation, die Mittel seines Kampfes aber sind dieselben: Machtmittel des Geistes. Sie setzen beim Körper an: »Um den Geist zu erreichen, muss man zuerst den Körper vorbereiten, tief bis in den Bauch hinein atmen, sich auf die Atemarbeit achtendkonzentrieren.« Sodann: keine Gefühle mehr, vor allem keine Wut, keinen Hass, auch keine Trauer; keine Erinnerungen an Beziehungen oder gar Umarmungen: »Sich erinnern heißt sterben.« Am schlimmsten sind die Erinnerungen an die Gerüche des »alltäglichen kleinen Glücks«: den Kaffeeduft, den Duft von frischem Brot… Die Wehmut bricht das Herz. Keine Sehnsüchte mehr, sondern nur noch ein rein geistiges Sein, das in der Lage ist, das Selbst aus sich heraus zu katapultieren, um erhaben zu sein über dieses Leben. In Gedanken sich durch einen anderen zu ersetzen und den eigenen Namen zu bewahren »wie ein Testament«. »Die Dinge im Geist wieder aufbauen«: einen Garten einrichten in Gedanken , ein Haus, ein alltägliches Leben, und das Selbst kann jederzeit unbemerkt dorthin entfliehen.
    Da ist keine Zeit mehr, die vergeht. Für Salim wird erfahrbar, dass es Zeit nur gibt, wenn es Bewegung und Veränderung gibt. Völlig zeitlos, alterslos, versucht er, ganz im »erstarrten Augenblick« zu leben und »mit dem Nichts zu verschmelzen«. Die verschiedensten Arten von Stille lernt er kennen und vermag sie mit feinem Gespür voneinander zu unterscheiden, auch die unterschiedlichsten Gesänge eines einzigen Vogels vor seinem Luftloch. Eine irrwitzige Kreativität bricht sich Bahn, die aus dem Metall eines Besens Rasierklingen und Nadeln zu fabrizieren versteht, Strategien der Bewegung gegen die Erstarrung des Körpers in der engen Grube entwirft, Schmerzen durch die Vorstellung noch größerer Schmerzen besiegt, einen Hund erfindet, der von Zelle zu Zelle zieht und Kommunikation vermittelt. Zum beständigen Gefährten aber wird der Tod, der in jeder Ritze lauert. Merkwürdigerweise ist es ausgerechnet der Tod, der das Licht wiederbringt, wenigstens für einen Moment. Es ist der Tod der Mithäftlinge, den sie erleiden, einer nach dem anderen, oder den einer sich selbst gibt, der seinen Kopf gegen die Wand schlägt; die Verbliebenen dürfen den Toten unter freiem Himmel begraben: »Der Tod verwandelte sich in einen prächtigen Sonnenstrahl.« Als auch dieses Privileg noch eliminiert wird,wird das Licht zu einer Frage der Vorstellungskraft.
    An das Licht und den Frühling zu denken ermöglicht, sogar den Gestank von Exkrementen und Erbrochenem auszuhalten. So viel Kraft spendet ein einziger Lichtstrahl, dass alles erträglich erscheint, und erst recht gilt dies für das innere Licht, dessen Metapher das äußere nur ist: Die Transzendenz, die Überschreitung des Selbst hin zum ganz Anderen wird zu einer Leistung des Geistes, der sich einen Begriff von dem allumfassenden Zusammenhang macht, in dessen Rahmen das Selbst sich aufgehoben fühlen kann. Diese Vorstellung gewinnt für den vormals wenig gläubigen Salim mehr und mehr an Plausibilität, verbunden mit der Überzeugung, niemandem zu gehören, letztlich

Weitere Kostenlose Bücher