Mit sich selbst befreundet sein
auch real werden zu lassen. Auf der zweiten Stufe erst geht es um ein reales Können , den wirklichen Vollzug. Nun kommt es darauf an, unter den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten eine oder wenige auszuwählen und ihre Umsetzung zu projektieren. »Ich kann das«, heißt nun: an der Realisierung zu arbeiten und ein Resultat vorweisen zu können. Es gibt keine Zwangsläufigkeit bei der Umsetzung: Was letzten Endes wirklich wird, kann nur bedingt beeinflusst werden; das Selbst muss damit zurechtkommen, dass andere und zufällige Umstände darauf einwirken; möglich ist auch, »nichts zustande zu bringen«. Nicht alle Möglichkeiten lassen sich realisieren, und vor allem nicht alle zugleich; wird dies dennoch versucht, resultiert daraus ein Phänomen namens »Stress«. Kunst ist verbunden mit Verzicht und erfordert, Möglichkeiten brachliegen zu lassen. Schließlich aber geht es um ein Anfangenkönnen : den richtigen Zeitpunkt ( kairós ) dafür zu erspüren, ihn festzulegen und herbeizuführen, Kairologie im mehrfachen Sinne. Allem Anfang wohnt ein Zauber inne, der Zauber einer Geburt, eines neuen Lebens. Das, was werden kann, ist in der Konstellation des Anfangs bereits angelegt, die dieses ermöglicht und wahrscheinlich macht, jenes nicht. Am anderen Ende der Zeit steht spiegelgleich ein Aufhörenkönnen bevor: wiederum den Zeitpunkt dafür zu erspüren, ihn festzulegen und möglicherweise herbeizuführen. Ist das Anfangen immer eine Geburt, so das Aufhören immer ein Tod: Ein Ende zu finden ist schmerzlich; wird es nicht gefunden, ist es dennoch irgendwann zu gewärtigen, und dies mit fortschreitender Zeit unter Bedingungen, über die immer weniger verfügt werden kann.
Auf der dritten Stufe steht ein exzellentes Können in Frage. Die entscheidende Frage ist dabei nicht mehr das grundlegende Ob einer Möglichkeit und das Was ihrer Umsetzung, sondern das kunstvolle Wie der Wirklichkeit, das Bemühen um Exzellenz. »Ich kann das«, heißt hier: es ganz besonders gut zu können. Exzellent ist die Realisierung auf herausragende Weise, herausragend aus dem Meer des Gewöhnlichen, enorm in Relation zur Normalität, ausgefeilt, gekonnt, intelligent, in Kenntnis der Kunstgriffe, die virtuos gehandhabt werden, mit aller Raffinesse und zum genau richtigen Zeitpunkt. Die Fähigkeit zur Exzellenz ist, auch wenn Talent eine günstige Voraussetzung dafür sein mag, vor allem eine Frage der geduldigen Asketik, der nachhaltigen Einübung, der unablässigen Gewöhnung, bis jeder Handgriff mit traumwandlerischer Sicherheit wie von selbst geschieht. Dass aber aus Vortrefflichkeit fehlerfreie Vollendung, aus Exzellenz Perfektion werden muss, steht nirgendwo geschrieben.
Aufgrund der subjektiven , individuellen Gebundenheit von Sensibilität, Gespür und dem darauf beruhenden Können wird Kunst zu Recht mit Subjektivität und Individualität in Verbindung gebracht. In Gestalt der Lebenskunst wird sie zum Prozess der bewussten, subjektiven Gestaltung des individuellen Lebens. Die Gestaltung hat nicht notwendigerweise ein abgeschlossenes »Werk« zur Folge, sondern kann ein work in progress bleiben; immer folgt sie jedoch dem Modell der Dreistufigkeit: Möglichkeiten zu erschließen, eine Möglichkeit zu verwirklichen und dies möglichst gekonnt zu tun. Mit der Arbeit der Gestaltung ist keineswegs eine beliebige Verfügung über das Material des Lebens, die Erfahrungen, Begegnungen, Gedanken, Gefühle, Hoffnungen, Ängste, Zufälle und vieles mehr gemeint. Nicht alles am Selbst und seinem Leben ist aktiv zu gestalten, vieles ist vielmehr in irgendeiner Weise passiv hinzunehmen, wobei sich jedoch die Frage stellt, mit welcher Haltung dies geschehen soll, denn die ist wiederum eine Frage der Wahl, somit der Gestaltung.Alle Aspekte der Gestaltung lassen sich durch theoretische Reflexion vorbereiten und durch praktische Einübung erlernen; um beide Ebenen geht es in Bildung, Weiterbildung, Erwachsenenbildung, künstlerischer Bildung, in der Arbeit der Philosophie und der therapeutischen Arbeit im weiteren Sinne, idealerweise in wechselseitiger Ergänzung.
Letzten Endes zielt die Kunst in der Lebenskunst jedoch nicht nur auf die Seite der Produktion (das Leben als Kunst und Kunstwerk), sondern auch auf die Seite der Rezeption (die Bedeutung von Kunst und Kunstwerken fürs Leben). Die Kunst ist frei, ihre Rezeption ist es auch: Ob, was, wann, wie, warum und wozu rezipiert wird, ist eine Frage der Wahl des Selbst. Kunst und Kunstwerke
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