Mit sich selbst befreundet sein
zu entdecken; es handelt sich um eine Fähigkeit zu überraschenden Verknüpfungen, die nicht zu entschlüsseln, jedoch im produktiven wie rezeptiven Umgang mit Kunst einzuüben ist. Und das Selbst bedarf einer Bereitschaft zu träumen , denn in Tag- und Nachtträumen werden Möglichkeiten und Unmöglichkeiten entdeckt und durchgespielt; Träume knüpfen Zusammenhänge und lösen sie auf, formen Konstellationen und verwirren sie, bringen das Selbst auf eine Idee oder warnen es vor drohenden Gefahren. Schließlich aber ist es die asketische Arbeit , die Bildung und Weiterbildung, die über eine Zeit der Anstrengung hinweg Möglichkeiten verschafft.
Über die virtuelle hinaus kann die reale Sensibilität die Verwirklichung einer Möglichkeit vorbereiten und begleiten. Sie ist der Sinn für Wirklichkeit , verbunden mit einem Gespür, das zum Erspüren derjenigen Möglichkeit führt, die unter gegebenen Bedingungen Wirklichkeit werden kann und soll. Die Frage ist: Welche der Möglichkeiten möchte ich realisieren und wie lässt sich dies bewerkstelligen? Nicht nur gedacht und gefühlt, sondern wirklich geht es nun ums Besorgen, Essen gehen, Freundestreffen, den wirklichen Vollzug von Entscheidungen zu Beruf, Familie, Lebensort, nicht mehr nur um Möglichkeiten dazu. Zur verlässlichen Einschätzung der jeweiligen Situation des Selbst und anderer sowie der gesamten Lebenswelt bedarf das Selbst sowohl sinnlicher wie auch struktureller Sensibilität: Alle Informationen der Sinne sind heranzuziehen, mit theoretischer Anstrengung jedoch die Strukturen auch zu erfassen, die den Sinnen entgehen und doch die eigentlichen Grundzüge der Wirklichkeit ausmachen, bezogen auf die äußere Wirklichkeit der Welt wie die innere des Selbst. Eine detaillierte und strukturelle Kenntnis der gegebenen Wirklichkeit ist erforderlich, um zur sinnvollen Auswahl einer Möglichkeit in der Lage zu sein und an ihrer Umsetzung in Wirklichkeit zu arbeiten. Die große Achtsamkeitund Aufmerksamkeit auf das bestehende Reale läuft nicht etwa darauf hinaus, sich ihm zu fügen, sondern es so gut wie möglich zu kennen, um die beabsichtigte Verwirklichung umsichtig zu platzieren.
Eine Steigerung der realen ist sodann die exzellente Sensibilität , die ihren Ausdruck in einem Sinn für kunstvolle Wirklichkeit, dem so genannten Kunstsinn findet. Diese Sensibilität bereitet die besonders gekonnte Verwirklichung vor und begleitet sie mit besonders gutem Blick für das Umfeld und die jeweilige Situation, mit ausgeprägtem Gespür für die Feinheiten der Realisierung, mit »Fingerspitzengefühl« für die Details. Hier ist die Frage: Wie werde ich höheren Anforderungen gerecht? Wie kann ich etwas auf intelligente Weise realisieren? Exzellenz ist die Vortrefflichkeit, aretē einst im Griechischen, die grundsätzlich in sämtlichen Tätigkeiten und Verhaltensweisen erreichbar ist, und seien sie noch so unscheinbar: im Alltäglichen, auch wenn das Alltägliche in seiner Trägheit der Exzellenz entgegensteht (und doch lässt sich auf exzellente Weise Essen zubereiten, lassen sich exzellente Gespräche führen), und bezogen auf das Ganze des Lebens (das Bemühen um exzellente Elternschaft, exzellente Ausübung des gewählten Berufs). Das Gespür dafür entsteht auf der Basis reichhaltiger Erfahrung und ihrer Reflexion, verbunden mit der Bereitschaft, Fehler zu machen und daraus zu lernen. So lässt sich das Gespür immer weiter ausbilden, bis es zur differenzierten Wahrnehmung im jeweils fraglichen Bereich fähig ist und der Komplexität einer Problematik gerecht zu werden vermag, wenn auch nicht in allen Bereichen des Lebens und der Kunst in gleichem Maße, und nicht vom einzelnen Selbst jederzeit und überall, denn es bedarf der Konzentration auf bevorzugte Bereiche. Der Feinfühligkeit hier entspricht eine Grobschlächtigkeit dort – eine exzellente Sensibilität in allen Bereichen des Lebens und der Kunst zugleich zu erreichen, erscheint unmöglich.
Auf der Grundlage von Sensibilität und Gespür erst ist die Kunst im Sinne von Können , Lebenskunst im Sinne von Lebenkönnen zu entfalten, erneut dreistufig und in derselben Reihenfolge: Der virtuellen Sensibilität entspricht auf der ersten Stufe ein virtuelles Können : Das Selbst erträumt sich nicht mehr nur Möglichkeiten, sondern erarbeitet sie, um wirklich über sie verfügen, auch wenn sie noch nicht aktualisiert werden. »Ich kann das«, heißt hier: im Besitz von Möglichkeiten zu sein, ohne diese
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