Mit sich selbst befreundet sein
Weise« zu leben, haben Menschen seit jeher eine kunstvolle Arbeit an sich und ihrem Lebengeleistet, individuell, gesellschaftlich und kulturell.
Einen definitiven, allgemein verbindlichen Begriff von Kunst gibt es nicht. Soll dennoch von Kunst die Rede sein, so ist der Begriff wenigstens provisorisch zu definieren. Unter Kunst soll hier zunächst vage »etwas Anspruchsvolles und Gekonntes« verstanden werden. Für die Lebenskunst als bewusster Lebensführung liegt der Anspruch in der Bewusstheit, das Gekonnte in der Gestaltung der Lebensführung auf dieser Grundlage. Lebenskunst, wie alle Kunst, ist nicht etwa leicht, sie ist schwer, sonst ist sie keine Kunst. Darüber zu klagen ist wenig sinnvoll, denn die Lebenskunst ist, wie jede Kunst, keine Norm, sondern eine Option . Was daran leicht erscheint, ist das Resultat von Arbeit, Mühe, Übung und Anstrengung; Talent ist eher hinderlich, denn es verkennt die Arbeit, die zu leisten ist. Die höchste Kunst besteht freilich darin, im Nachhinein leicht zu erscheinen. Grundlegend für die Lebenskunst ist, wie für alle Kunst, die Wahl , sich auf den Weg dazu zu machen. Dann jedoch verfährt das Selbst wie der Maler, der das Bild zuerst vor seinem inneren Auge sieht und schließlich daran arbeitet, immer wieder einem Detail sich widmet, immer wieder einen Schritt zurücktritt, um aus der Distanz den Gesamtzusammenhang zu sehen. Ebenso ist das künftige Leben eine Vision, ein Traum, eine erträumte Möglichkeit , vielleicht nur die Ahnung von einem Gesicht, einer Begegnung, einem Weg, einem anderen Leben. Der Übergang von der unbestimmten Ahnung zur bestimmten Form, vom Irgendwie zum »So und nicht anders«, vom Irgendwas zum »Dies und nicht jenes« ist der Weg von der Möglichkeit zur Wirklichkeit . Er besteht aus einer Abfolge konkreter Handlungen, einzelner Schritte wie Pinselstriche, die nicht alle vorweg im Detail zu konzipieren sind und doch der Vorbereitung bedürfen; der Raum ist zu schaffen, innerhalb dessen die Arbeit sich entfalten kann; die Zeit ist einzuteilen, die über eine Vielzahl von Stationen zum Ziel führt. Im Fortgang der Arbeit erst wird die Gekonntheit der Gestaltung möglich, mit wachsender Erfahrung im Umgang mitder Sache, mit zunehmender Gewöhnung an die sich stellenden Herausforderungen, und mit der Einübung in die stets wiederkehrenden Handgriffe. Gekonntheit ist kein Muss, sondern ein Surplus, und doch die eigentliche Erfüllung, Kunst im Sinne von Exzellenz. Jedes Streben nach Exzellenz ist Kunst.
Auf allen drei Ebenen der Möglichkeit, Wirklichkeit und Gekonntheit sind Sensibilität und Gespür Voraussetzungen der Kunst, in solchem Maße sogar, dass diese selbst schon als Inbegriff von »Kunst« erscheinen können. Es handelt sich dabei zunächst um eine virtuelle Sensibilität , die in einem Sinn für Möglichkeiten zum Ausdruck kommt, verbunden mit einem Gespür für die innere Unruhe, einem Erspüren der Bedürfnisse und Sehnsüchte im Selbst, einem Aufspüren der Möglichkeiten, die den Bedürfnissen und Sehnsüchten gerecht würden, einem Aufspüren sowohl von Chancen wie auch drohenden Gefahren, individuell wie auch gesellschaftlich, deren Spuren in momentanen Konstellationen sich bereits abzeichnen. Sensibilität und Gespür machen das Selbst aufmerksam auf das, was ihm fehlt, oder umgekehrt, was ihm gut tun würde. Sie halten es davon ab, sich in eine Situation zu begeben, in der das Leben »eng wird«, und halten es dazu an, immer aufs Neue danach zu fragen: Welche Möglichkeiten des Lebens gibt es, wo kann ich sie finden und, falls sie nicht zu finden sind, welche lassen sich erfinden? Das gilt für alle Bereiche und auf allen Ebenen des Lebens, für unscheinbare Akte des Alltags (Besorgungen zu machen, Essen zu gehen, sich mit Freunden zu treffen) wie für grundlegende Lebensentscheidungen etwa zu Beruf, Familie und Lebensort: Möglichkeiten, Kräfte, Potenziale sind ausfindig zu machen oder erst zu schaffen. Einen Anfang dazu macht die Achtsamkeit auf bestehende Möglichkeiten, die offen zutage oder aber im Verborgenen liegen. Dazu dient eine umsichtige Information, aber auch eine Nutzung des Zufalls , der dem Selbst Möglichkeiten zuspielt. Um sie nutzen zu können, kommt es jedoch darauf an, sie zu erkennen und bereit zu sein, ihnen Raum zu geben, sich offen zu halten dafür und siegewähren zu lassen. Mit erfinderischer Kreativität vermag das Selbst auf unvorhersehbare Weise Neues, noch nicht Bekanntes, auch »Irreales«
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