Miteinander reden 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung; Differentielle Psychologie der Kommunikation (German Edition)
zunächst überhaupt nicht die Frage «Wie sag ich es meinem Kinde?» vorrangig (Gestaltung der Äußerung ), sondern vielmehr
«Was ist es überhaupt genau, das ich zu sagen habe?
Was geht in mir vor, wenn ich diese Flecken sehe?
Welche Erfahrungen habe ich selbst mit Onanie und
welche Einstellung dazu?», usw.
Die zur klaren Kommunikation nötige Selbstklärung wurde hier nachgeholt, der Brennpunkt läge bei der Innerung (vgl. Abb. 1). Die Mutter würde dabei lernen, sich selbst hinter die Kulissen zu schauen, und könnte bei dieser Selbsterfahrung ein Stück Bewusstheit dazugewinnen. Natürlich wäre es hier auch sinnvoll, Informationen zu geben (zum Beispiel darüber, dass es wissenschaftlich keine Gründe gibt, Onanie für gesundheitsschädlich oder verwerflich zu halten; dass allerdings Schuldgefühle seelisch ungesund sind; dass nächtliche Pollutionen sich auch von selbst ereignen usw.). Das Kernstück dieser Art von psychologischer Erwachsenenbildung aber besteht in der psychischen Vorarbeit zur inneren Wahrhaftigkeit, nach dem Motto
Willst du ein guter Partner sein,
dann horch erst in dich selbst hinein!
Bei dieser Grundausrichtung ist die wirksame Einflussnahme, das «Ändern der Andern» zweitrangig und sogar etwas verpönt: Erziehung und Menschenführung beginnen bei sich selbst! «Was tue ich mit mir , wenn der andere nicht so ist, wie ich ihn haben will?», gab Ruth Cohn uns als Thema für die Gruppenarbeit, in der Einsicht, dass dem «Herumdoktern-Wollen» am anderen oft eine undurchschaute Eigendynamik zugrunde liegt.
Nun ist das aber nur die eine Seite. Unsere Mutter im Beispiel wird im zweiten Schritt nun auch vor der Frage stehen, ob und wie sie ihr im ersten Schritt geklärtes Anliegen jetzt auch vermitteln, in einen Dialog einbringen kann, und zwar so, dass sie Aussicht auf Erfolg hat. – Kommunikation steht wesensmäßig im Spannungsfeld von Wahrhaftigkeit und Wirkungskalkül . Ich will ja auch etwas erreichen mit dem, was ich sage. Damit kommen wir zur zweiten Grundausrichtung der angewandten Kommunikationspsychologie, die vorwiegend von der Rhetorik und Dialektik inspiriert ist. Hier wird nicht (so sehr) nach der Entsprechung von Innerung und Äußerung gesucht, sondern nach der optimalen Äußerung im Hinblick auf die bezweckte Wirkung (Reaktion des Empfängers). Unter diesem Gesichtspunkt zählen Takt und Taktik, die Kunst der Diplomatie und der geschickten Redeführung. Hier lautet die Frage nun wirklich: «Wie sage ich es meinem Kinde (Mitarbeiter, Vorgesetzten, Kunden, Wahlvolk)?»
Mit dem zweifellos suggestiven Argument «Der Köder soll dem Fisch schmecken, nicht dem Angler!» nehmen Vertreter dieser Richtung gegen die Humanistische Kommunikationspsychologie Rogers’ und Cohns Stellung (besonders deutlich bei Esch, 1983: «‹Authentisch› kommunizieren – oder human? Kommunikationstraining zwischen zwei Lehrmeinungen»). Hier wird der Humanistischen Psychologie ein Postulat der «totalen Offenheit» und eine «Orientierung an den eigenen Bedürfnissen» unterstellt, bei der die oberste Maxime laute, nur möglichst «echt und spontan die Gefühle herauszulassen», wodurch die «Gesellschaft ihrer Zivilisiertheit beraubt» werde (S.7 und 10). Als heilsame Alternative wird eine Orientierung an Dale Carnegie («How to win friends and influence people») empfohlen, zum Beispiel: «Gewinnung von Sympathie und Einfluss auf andere Menschen durch Einkalkulieren ihrer Schwächen in die eigene Verhaltensstrategie», oder: «Wenn Sie beliebt sein wollen, merken Sie sich die Regel: Lächeln Sie!» (S.8). Carnegies «völlig unverblümtes Bekenntnis zur Manipulation» sei «zum Nutzen der gegenseitigen Harmonie beziehungsweise Kommunikation», infolgedessen auch: «Die einzige Möglichkeit, einen Streit zu gewinnen, ist, ihn zu vermeiden.» (S.9)
Nun mag für bestimmte gesellschaftliche Kontexte die Definition der Beziehung zwischen zwei Menschen als zwischen Angler und Fisch realistisch sein und die Funktion der Kommunikation als «Köder» in diesem Denken durchaus folgerichtig; und das Argument ist auf der Beziehungsebene geradeso verführerisch, wie ein guter Köder sein soll: Es wird dem Teilnehmer der Erwachsenenbildung versprochen: «Du kannst ein Angler werden und die anderen Menschen mit deinen Ködern fangen – wir bringen es dir bei!» Welcher Fisch wird nach diesem Köder nicht gern schnappen?
Es ist nicht schwer, diese Mentalität des Gewinnen- und
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